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"Semele" an der Bayerischen Staatsoper Wie Händel München eroberte

Britischer Humor und barocke Spielweise: Unter Sir Peter Jonas gab es an der Bayerischen Staatsoper einen Barock-Opern-Schwerpunkt. Dabei erhielt das Bayerische Staatsorchester einige Lektionen im Fach Alte Musik. Mit der Premiere von Händels "Semele" am 15. Juli im Rahmen der Münchner Opernfestspiele wird diese Tradition nun wieder aufgegriffen. Zeit für einen Rückblick.

Ein Bühnenarbeiter schiebt am 25.06.2003 im Nationaltheater in München Kulissen für Händels Oper "Rodelinda" über die Bühne. | Bildquelle: picture-alliance / dpa | Heinz von Heydenaber

Bildquelle: picture-alliance / dpa | Heinz von Heydenaber

Dem Staatsintendanten Sir Peter Jonas gebührt das Verdienst, die Barockoper in München etabliert zu haben. Im Zeitraum von 1994-2006 hat er vierzehn musiktheatralische Werke dieser Stilrichtung in Neuproduktionen herausgebracht, davon fünf Münchner Erstaufführungen. Auf Händel lag mit neun Opern der Schwerpunkt, und zwar in dieser Reihenfolge: "Giulio Cesare", "Serse", "Ariodante", "Rinaldo", "Acis and Galatea", "Saul", "Rodelinda", "Alcina" und "Orlando". Zusätzlich gab es alle drei Monteverdi-Opern: "L’Incoronazione di Poppea", "L‘Orfeo" und "Il Ritorno d’Ulisse in patria". Auch noch eine von Cavalli ("La Calisto") und eine von Purcell ("Dido and Aeneas"). In der folgenden Intendanten-Ära von Nikolaus Bachler kamen zwei weitere Händel-Opern hinzu, "Tamerlano" und "Agrippina", eine weitere Neuinszenierung von Monteverdis "L‘Orfeo" und sogar mal was Französisches: Rameaus "Les Indes Galantes". Der aktuelle Amtsinhaber Serge Dorny hat den Faden letzten Winter mit einer Neudeutung von Purcells "Dido and Aeneas" aufgegriffen. Jetzt setzt er die Barocktradition des Hauses bei den Opernfestspielen mit einem weiteren Händel fort: "Semele".

Der englischste deutsche Komponist schaut in Bayern vorbei

Eine Rarität von Georg Friedrich Händel trägt den Namen "Semele". Sie kommt als Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper bei den Münchner Opernfestspielen heraus. Diesmal ist das für kleinere Besetzungen akustisch perfekte Prinzregententheater der Schauplatz. Und weil die Händel-Renaissance an der Isar vor rund 30 Jahren begonnen hat, erinnert BR-KLASSIK an die Anfänge dieser wertvollen Repertoire-Bereicherung. Der Rückblick gilt speziell den Inszenierungen von "Giulio Cesare" (1994) und "Ariodante" (2000), denn sie zeigen die Pole eines gewissen Spektrums von Regiekonzepten auf.

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Ein ausführliches Dossier zum Thema "500 Jahre Bayerisches Staatsorchester" finden Sie hier.

Richard Jones und Nigel Lowery - eine Überdosis Klamauk

Frau und Mann auf dem Vorhang – aber wie! Mit einer sexy Collage der Geschlechter wird das Spiel um Macht und Liebe ins Bild gesetzt. Gleich zur Begrüßung des Publikums, noch bevor der erste Ton erklingt. Es ist das zentrale Thema der beliebtesten Barockoper Händels: "Giulio Cesare in Egitto / Julius Cäsar in Ägypten". Im Münchner Nationaltheater ist sie eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr erklungen. Ein britisches Regieteam gibt sein Hausdebüt im März des Jahres 1994. Richard Jones und sein Ausstatter Nigel Lowery jonglieren mit zeitlich und örtlich weit auseinanderliegenden Phänomenen und einem zeit- und ortlos wirkendem Bühnenbild. Dezidiert jedoch mit Weltraum am endlosen Horizont. Warum aber wird die Geschichte vom römischen Kaiser auf Auslandsreise mit tumulthaftem Buh und Bravo quittiert? Weil es eine Überdosis Klamauk und Slapstick gibt. Und das ist nicht gerade Alltag in diesem ehrwürdigen Gesangstempel.

Dinosaurier in "Giulio Cesare" wird zum Kult

Eine Steilvorlage für gegensätzliche Reaktionen im Publikum ist ein wirklich imposanter Dinosaurier, der zum Kult wird. Einmal legt er sich in provokanter Zeitlupe auf den Boden, während die Musik eine gefühlte Ewigkeit schweigt. Auch eine Riesenschnake und Haie wirken wie Leihgaben aus Hollywoods zoologischem Garten. Menschen ringen mit ihren egoistischen Selbstsüchteleien. Keine der Bühnenfiguren bleibt von karikaturistischer Verzeichnung verschont, auch die ägyptische Königin Cleopatra nicht. Da gibt es Gelächter über grinsende Babys statt der erwarteten hoheitsvollen Musen im Parnass. Gelächter über einen schmerzend schwankenden Speer im Bauch des Meuchelmörders Ptolemäus. Gelächter über das abgeschlagene Haupt des Pompejus, überreicht in einer Plastiktüte. Die szenische Interpretationsfantasie erweist sich als Reigen von Regie-Gags in bunt belebter Manege. Auch ein paar wild zappelnde Tänzerinnen und Tänzer tragen ihren Teil bei zur schicken Verballhornung des Stücks. Nur zwischendurch und während des Schluss-Tableaus scheint "Giulio Cesare" seinem eigentlichen Genre zugeordnet: dem der eigentlich doch tief ernsten Opera seria. Es hätte zur Barockzeit als Reaktion darauf sicher nie die berühmte "Beggar's Opera / Bettleroper" gegeben, wenn es schon bei Händel so respektlos zugegangen wäre.

Charles Mackerras teilt den Humor nicht

Ann Murray in "Ariodante" | Bildquelle: Anne Kirchstein Ann Murray. | Bildquelle: Anne Kirchstein Witzig ist, dass die Musik eines jeden Aktes immer schon startet, bevor die Türen zum Zuschauerraum geschlossen werden, bevor jeweils das Licht im Zuschauerraum verlischt. Der Dirigent Sir Charles Mackerras mag sich auf solchen Humor nicht einlassen. Zwei Monate vor der Premiere kehrt er der Produktion den Rücken. Einspringer Ivor Bolton benutzt die 15 Jahre zuvor durch Mackerras an der English National Opera vorgestellte Bearbeitung der Partitur. Aber nimmt Änderungen vor. In München wird Italienisch gesungen, nicht Englisch. Er hilft dem Bayerischen Staatsorchester nach Kräften bei der Umstellung auf eine weitgehend barocke Spielweise, mit der es sich bislang nicht ausgekannt hat. Historische Aufführungspraxis eben, oder zumindest historisch informiert. Unter den vokal agierenden Solist:innen ist ein veritabler Star: die britische Mezzosopranistin Ann Murray in der Titelpartie! Aber mit dem gewöhnungsbedürftigen Timbre und dem manierierten Gesang des intriganten Tolomeo in Gestalt des Countertenors Christopher Robson hadern viele.

Händel als eine Art Chamäleon

Auf "Giulio Cesare" folgt an der Staatsoper relativ schnell ein ähnlich comedyhafter "Serse / Xerxes". Da denken sich viele, dass es bei diesen Münchner Händel-Inszenierungen wohl immer so weitergeht, mit weit nach oben gezogenen Mundwinkeln, zumindest auf Seiten der szenisch Verantwortlichen. Doch kurz nach dem Jahrtausendwechsel, im Februar des Jahres 2000, liefert "Ariodante" einen ganz anderen Interpretationsansatz.

Von Händels Vielseitigkeit war ich immer fasziniert. Er hat alles gemacht.
Sir Peter Jonas

Er ist verbunden mit dem Namen des New Yorkers David Alden, dem meistbeschäftigten Regisseur der Ära des 2020 verstorbenden Staatsintendanten Peter Jonas. Und der hat Händel für eine Art Chamäleon gehalten:  "Von Händels Vielseitigkeit war ich immer fasziniert. Er war Intendant, Impresario, Regisseur, Bühnenbildner, Geschäftsmann, Gewerkschaftsboss, Arbeitgeber. Er hat alles gemacht."

Inhaltliches Schwergewicht: "Ariodante"

Opernintendant Sir Peter Jonas | Bildquelle: picture-alliance/dpa Sir Peter Jonas. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Durch "Ariodante" jedenfalls bekommt der weiter gesponnene Münchner Händel-Faden plötzlich Bleigewichte. Obwohl auf der Bühne geflogen wird. Äpfel sind es, die aus den Kulissen von links geworfen werden, gleichzeitig auch von rechts. Geworfen werden sie zu Hunderten. Und das alte Symbol der Verführung, derart vervielfältigt, gerät zu einer Bedrohung für die arme, alptraumgeplagte Königstochter Ginevra. Ihr Vater hat sie in die Enge und die Nestwärme zu weit getrieben. Das Mädchen, das über den Mann im Vater erschrickt – die Frau, auf der die Entdeckung der eigenen Triebe lastet. Wenn die Libido taumelt, treten traurige Gefühlsverwirrungen zutage, Abgründe menschlichen Innenlebens. Ohnmachtsanfälle im Strudel zerstörerischer Emotionen, ein eklatanter Geborgenheitsverlust.

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Im April 2020 starb Sir Peter Jonas. Lesen Sie dazu ein Interview mit dem Zubin Mehta, dem ehemaligen Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper.

Kein glückliches Ende

Neben Ginevra ist Dalinda, ihre Hofdame, eine wichtige Figur. Ihre Liebesgefühle investiert sie in den Falschen: den mit rotem Haarschopf, dann kahlköpfig spielenden Polinesso. Dalinda lässt sich von ihm für seine Zwecke benutzen, nimmt als Lohn brutale Härte zwischen Vergewaltigung und Mordanschlag entgegen – kommt über den Tod des Peinigers später aber dennoch schwer hinweg. Als Polinesso im Kampf besiegt wird, löst sich Dalinda innerlich kaum von ihrem einstigen Herzenskandidaten. Was sich als "lieto fine / Happy End" gibt, ist kein glückliches Ende. Liebende haben seelischen Schaden genommen. Jegliches Aufatmen oder Lächeln wird zu Schwerstarbeit.

David Aldens Regie: tänzerisch und tiefenpschologisch

David Alden (Inszenierung) | Bildquelle: © Wilfried Hösl David Alden. | Bildquelle: © Wilfried Hösl Ausstatter Ian MacNeil lässt den Saal eines Barockschlösschens vor unseren Augen langsam verfallen. Als Spiegel der inneren Handlung. Bald hängen Zimmerdecke und Kandelaber fast auf dem Fußboden. Wesentliches Element der Raumgestaltung und zugleich Versailles-Zitat sind transparente Spiegelflächen an der Bühnenrampe, die abwechselnd den Blick auf das Geschehen dahinter oder davor konzentrieren. Auch sich selbst sieht der Zuschauer dabei. Sobald das Fenster in der Rückwand des Zimmers gerade einmal nicht den Blick in surreale Natur freigibt, entsteht eine neue Spielfläche. Von ihr nehmen vorwiegend tänzerische, tiefenpsychologisch wirkende Reflexionen der Handlung ihren Ausgang. Für das Kammerspiel nutzt David Alden auch Mittel körpersprachlichen Ausdrucks. Schließlich ist das hier ein "Dramma per musica", das ab und an sängerisch verstummt und aus der Oper ein Ballett macht.

Lektionen in Alter Musik für das Staatsorchester

Ann Murray schneidet musikalisch wieder am besten ab, weil sie für Freud und Leid bis in entlegene Randzonen vokaler Expressivität vordringt. Zum Glück hat sie wieder mal die größte Partie von allen – Ariodante. Doch auch die beiden Sopranistinnen, Joan Rodgers als Ginevra und Julie Kaufmann als Dalinda, identifizieren sich anrührend mit ihren Aufgaben. Nur Countertenor Christopher Robson alias Polinesso geht wieder mit einer zu wenig tragfähigen Stimme ins Rennen, bettet alles in eine gekünstelte Vortragshaltung. Das Bayerische Staatsorchester lernt seine Lektionen im Fach Alte Musik hörbar immer besser, Dirigent Ivor Bolton verzeichnet große Fortschritte. Dass er seinen Rotstift schont und kaum für Striche des Vierstunden-Stücks verwendet, hindert das Publikum nicht an stürmischem Applaus und Bravi zu weit vorgerückter Stunde.

Ob die Neuinszenierung der "Semele" einen ähnlichen Erfolg verbuchen wird, darf mit Spannung erwartet werden. Zu gönnen ist es ihr auf jeden Fall.

Premiere "Semele"

Während der Opernfestspiele präentiert die Bayerische Staatsoper Händels "Semele". BR-KLASSIK überträgt die Premiere live aus dem Prinzregententheater am Samstag, 15. Juli, ab 18 Uhr.

Kommentare (1)

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Donnerstag, 13.Juli, 01:47 Uhr

P. S.

Mit Peter Jonas...

...und seinen albernen Händel-Inszenierungen begann der Niedergang der BSO. Der heutige Zustand ist einfach nur traurig.

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