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Montag, 14.05.2018

12:05 bis 14:00 Uhr

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Strand von Ipanema | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Aus dem Studio Franken: Mittagsmusik

Mit Susanne Alt

Bis Mitte 2022 gab es die Sendung "Mittagsmusik" auf BR-KLASSIK. Hier könnnen Sie weiterhin in den Archiven der Sendung schmökern.

Im Thema der Woche geht es dieser Tage in der Mittagsmusik in südliche, tropische Zonen - nach Rio de Janeiro, in die zweitgrößte Stadt Brasiliens, in die Küstenmetropole am Südatlantik. Unzählig sind ihre Wahrzeichen: der Zuckerhut, die Christusstatue auf dem Corcovado-Gipfel, die mondänen Stadtstrände von Botafogo, Ipanema und Copacabana - alles von einer überwältigenden, unsagbaren Schönheit. Doch die glitzernde, funkelnde Medaille hat ihre Kehrseite: Die Stadt ist auch ein Ort der Gefahr, des lauernden Unheils und der unbeschreiblichen Armut. Rio de Janeiro ist Paradies und Hölle zugleich, steht für namenlosen Schrecken und jene mit Worten kaum benennbare Schönheit. Sprachlosigkeit kennen wir in der Mittagsmusik freilich nicht: "Wo die Worte aufhören, da beginnt die Musik", heißt es bekanntlich treffend, und so präsentieren wir Ihnen im Thema der Woche jeden Tag, jeweils zwei Musikstücke, die Rio de Janeiro umkreisen und beschwören. In manchen dieser Paarungen wird auch die Doppelnatur der Megastadt zum Ausdruck kommen: Rio de Janeiro - Schönheit und Schrecken.

Ipanema - schön und sexy

Am Montag haben wir zum Einstieg - wie könnte es anders sein - eine Musik, die geradezu ein tönendes Synonym für Rio de Janeiro ist. Sie stammt von Antônio Carlos Jobim, geboren 1927 in Rio, gestorben 1994 in New York. Nach Heitor Villa- Lobos ist er eine Art zweiter brasilianischer Nationalkomponist, und heute trägt einer der Flughäfen Rios seinen Namen. Antônio Carlos Jobim - mit seiner von João Gilberto aufgenommenen Komposition "Chega da Saudade" begründete er 1959 den Song- und Tanztypus der Bossa Nova, einer erlesenen Mischung aus Samba und Cool Jazz. Den internationalen Durchbruch Jobims und des seinerzeit ganz neuen Genres brachte fünf Jahre später der Jahrhundert-Hit "The Girl from Ipanema" mit einem Text von Vincius de Moraes. Er erzählt von der so aufreizenden wie unnahbar-coolen Blondine, die an der Praia de Ipanema, dem nobelsten Stadtstrand Rios, die Augen auf sich zieht. Im Lied bleibt sie namenlos, doch ist sie kein Produkt männlicher Phantasie: Sie ist ein reale Person, eine Frau aus Fleisch und Blut: Helô Pinheiro, die große platonische Liebe Jobims. Die Ersteinspielung von "The Girl from Ipanema" ist legendär: Begleitet von einer kleinen Combo mit Jobim am Klavier und dem Star-Saxophonisten Stan Getz als Solisten singen João und Astrud Gilberto abwechselnd auf Portugiesisch und auf Englisch: "When she walks it's like a samba that swings so cool and sways so gently", lautet einer der größten Zeilen, und die Musik tut dem gleich. "The Girl from Ipanema" - ein Klassiker für alle Zeiten

Ipanema - das lauernde Unheil

Ipanema heißt auch der Stadtteil, an dem sich der Strand befindet. Fast ein halbes Jahrhundert vor Jobim hat diesen Barrio in der so genannten "Südzone" Rios bereits ein anderer Komponist mit einer ganzen anderen Musik beschworen: Darius Milhaud, der neben Francis Poulenc und Arthur Honegger bekannteste und berühmteste Vertreter der Pariser "Groupe des Six". Während des 1. Weltkriegs verbrachte Milhaud als Kulturattaché des französischen Botschafters Paul Claudel unvergessliche Jahre in Rio de Janeiro. Voller Nostalgie schrieb er nach seiner Rückkehr die "Saudades do Brasil" (Sehnsucht nach Brasilien), eine Suite, deren Sätze alle Namen von Stadtteilen Rios tragen. Milhauds Beschwörung von Ipanema hat nichts von einer beschaulichen, farbig-pittoresken Postkartenidylle. Der Stadtteil zeigt in dieser Musik gewissermaßen seine scharfen, weißen Zähne. Für den Besucher von der nördlichen Halbkugel lauert an seinem Strand und in seinen Straßen überall das Unheil. Hier ist alles gefährlich: Das Meer, die Menschen, der hektische Großstadtverkehr und die stechende, grelle Sonne des glühend heißen, leuchtenden Nachmittages. Gegen Ende hört man wie aus der Ferne einer abgelegenen Seitenstraße die bedrohlichen Vibrationen Rios. Dann verklingt die Musik mit einem "schrägen" Akkord aus Ges-Dur, D-Dur und b-Moll. Polytonalität nennt man dieses Übereinanderschichten verschiedener Tonarten. Darius Milhaud hat es auf die Spitze getrieben - es gehört zu den Markenzeichen seiner Tonsprache.

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