BR-KLASSIK

Inhalt

Bilanz der 50. Internationalen Jazzwoche Burghausen 2019 Soul, Raumklang und Rekorde

Zum 50. Mal fand die Internationale Jazzwoche im südostbayerischen Burghausen statt – und dies immer noch mit demselben künstlerischen Leiter, dem Jazzpädagogen Joe Viera, der dieses Festival 1970 mit aus der Taufe gehoben hat. Die Jubiläums-Ausgabe konnte mit einem Besucherrekord aufwarten und einem finanziellen Gesamt-Etat, der alles Bisherige schlug. Metaphorisch und auch ganz wörtlich: Sechs Tage Sonnenschein mit den Blue Notes an der Salzach.

Jazzwoche Burghausen 2019 | Bildquelle: Frank Rasimowitz

Bildquelle: Frank Rasimowitz

Jamie Cullum im Video-Interview

Diese Jazz-Tage und -Nächte gingen mit jugendlichem Drive zu Ende. Drei einstige Gewinner des seit elf Jahren existierenden Europäischen Burghauser Nachwuchs-Jazzpreises teilten sich am Sonntagnachmittag die Bühne im Stadtsaal in der Altstadt. Das Trio des englischen Pianisten Eliot Galvin (Preisträger 2014) fesselte mit kantig-schönen Eigenkompositionen: Jazz, der sich mit kleinen Motiven ins Trancehafte steigert und nicht besser gespielt werden könnte. Das deutsche Trio Malstrom (Preisträger 2015) um den rauschebärtigen 8-Saiten-Gitarristen Axel Zajak ließ Heavy-Metal-Jazz-Breitseiten aufs Publikum nieder wettern, auch dies in enormer Perfektion. Und die Beats & Pieces Big Band aus dem englischen Manchester (Preisträger 2011) riss wie ehedem mit groovender Spiellust und sinnlicher Bläserwucht über rockig treibenden Rhythmen mit.

10.800 Besucher – mehr als je zuvor

Jazzwoche Burghausen 2019 | Bildquelle: Frank Rasimowitz Lucky Peterson | Bildquelle: Frank Rasimowitz Ein erfrischender Nachmittag nach einer Jazzwoche mit vielen Stars – von Gitarrist Al di Meola bis Entertainer Jamie Cullum - und ungewohnten Ausmaßen. 10.800 Besucher wurden für das Festival errechnet – davon 10.000 zahlende -, das sind über tausend mehr als bei der bisher erfolgreichsten Burghauser Jazzwoche, 2017. Organisations-Chef Herbert Rißel, Bürgermeister Hans Steindl und der künstlerische Leiter Joe Viera standen bei der Abschluss-Pressekonferenz immer noch unter dem Eindruck des Gastspiels von Sänger, Pianist und Entertainer Jamie Cullum, der am Samstagabend vor 1400 Zuhörern am Hauptspielort, der Wackerhalle, rund zwei Stunden lang musikalischen Feinschliff und hüpfende, wirbelnde Action geboten hatte. Allein der Zugabenteil dauerte fast  eine halbe Stunde. Der Brite erneuerte damit seine Liebeserklärung an die 19.000-Einwohner-Stadt und ihre traumhafte Burg-Kulisse. 2014 hatte er mit seinem ersten Jazzwochen-Auftritt die Herzen des Publikums und der Veranstalter gewonnen – und jetzt, fünf Jahre danach, brachte er sogar seine Eltern mit, um ihnen diesen besonderen Jazz-Ort zu zeigen. Für Joe Viera war Cullums erneutes Gastspiel ein Höhepunkt dieses Jahrgangs – was auch zeigt, dass der 86-jährige Programmchef des Festivals keine enge stilistische Auffassung von dem hat, was "Jazz" sei. Entertainment, Pop, Blues, Mainstream Jazz und ganz aktuelle Sound-Kreationen: All das hat bei diesem Festival seinen Platz. Und zieht denn auch die Besucher an.

Ziel: mehr junge Publikum gewinnen

Bürgermeister Hans Steindl richtet nach diesem auch noch mit "Kaiserwetter", wie er sagt, belohnten Jahrgang den Blick in die Zukunft: "Wir stehen zur Jazzwoche. Wir wollen das Niveau hoch halten. Die Finanzierung ist gesichert". Der Termin für die 51. Jazzwoche steht bereits fest (17. bis 22. März 2020), und spätestens beim 75. Festival, das Steindl scherzhaft ins Feld führt, soll noch mehr junges Publikum gewonnen sein als zuletzt durch Pop-Seitenblicke und den Nachwuchswettbewerb. Rund 750.000 Euro betrug der Gesamt-Etat des Jubiläums-Festivals (vorher rund 450.000 Euro), und Organisations-Chef Herbert Rißel betont, dass 53 Prozent davon durch Eintrittskarten eingespielt worden seien. Der Zuschuss der Stadt betrug 150.000 Euro, und vom Freistaat Bayern erhofft man sich diesmal rund 75.000 Euro aus einem Sondertopf für Jubiläen – wie hoch die Zahl genau sei, werde man im Mai erfahren.

Sechzig Streicher auf der Bühne

Mit dem vielen Geld wurde diesmal neben Klasse auch Masse eingekauft. In einem Fall blieb diese Masse musikalisch ungewöhnlich träge: Das Gastspiel der "Latin Jazz Sinfonica" zusammen mit dem Trio des kubanischen Pianisten Ramón Valle mit einem symphonischen Apparat von über 60 Musikern, die kaum auf die Bühne der Wackerhalle passten, kleisterte die tänzelnde Musik des quirligen Pianisten einfach nur süßlich zu, und in langen Bühnenmoderationen feierten Musiker der "Neuen Philharmonie Berlin" unter der Leitung von Andreas Schulz einander auch noch unnötig oft gegenseitig. Manche Besucher wanderten vorzeitig ab, viele blieben aber auch.

Warme Töne fürs Jazzer-Herz

Jazzwoche Burghausen 2019 | Bildquelle: Frank Rasimowitz Dianne Reeves | Bildquelle: Frank Rasimowitz Solch ein Fehlkauf trübt etwas das Bild von einer Veranstaltung, bei der sonst auch diesmal ein gutes Gespür für Zeitlos Schönes und bunt Gemischtes das fünf Jahrzehnte lang gepflegte Erfolgsrezept dieses Festivals bestätigte. Es gab Töne fürs weite Jazzer-Herz, besonders beim Konzert der Unternehmung "Sing the Truth!" mit drei großen Sängerinnen in der Band der Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington: Die erdig-dunkel Stimme von Lizz Wright, die unendlich weit dehnbare von Dianne Reeves und die wie ein vokales Percussion-Instrument klingende der aus Benin stammenden Angélique Kidjo jagten dem Publikum warme Schauer über den Rücken – mit Stücken wie "The River" von Joni Mitchell und dem Rock-Hit "Proud Mary". Einen ähnlich direkten Weg zu den Gefühlen des Publikums fanden am traditionellen Blues-Nachmittag in der Wackerhalle der amerikanische Gitarrist Walter Trout, der nach einer Leber-Transplantation (2014) wieder verblüffend viel musikalische Kraft auf die Bühne bringt und mit aufjauchzenden E-Gitarren-Soli explizit das Leben und das Über-Leben feiert – was er auf der Bühne auch sagt. Der Organist, Sänger und Gitarrist Lucky Peterson, der im knallgelben Anzug auf die Bühne gekommen war, brachte gleich danach eine ganz andere, afroamerikanisch soulige Variante bluesiger Musik funkensprühend zum Blühen.

Konzertgitarre und Beatles-Songs

Das waren Momente fürs Langzeit-Gedächtnis. Ob das Konzert des Gitarristen Al di Meola zusammen mit einem Streichquartett, Akkordeonist Fausto Beccalossi und Pianist Kemuel Roig dazugehört, hängt stärker als sonst von persönlichen Vorlieben ab. Nach Eigenkompositionen, Musik von Tango-Komponist Astor Piazzolla, zwei Beatles-Stücken ("Because" und "She's leaving home") sowie seinem Hit "Mediterranean Sundance" als effektvoller Zugabe hinterließ Di Meola, der die ganze Zeit auf einer klassischen Konzertgitarre gespielt hatte, ein jubelndes Publikum. Manche der Stücke, gerade in der ersten halben Stunde, hatten aber zuweilen ziemlich papieren gewirkt, außer wenn der Akkordeonist seine ungemein beseelten Töne klagen und verglimmen ließ. Wer Di Meola zum wiederholten Mal hörte, stellte eine allzu starke Vorliebe für die immer gleichen Läufe und flitzenden Figuren fest, die die Unterschiede zwischen den Stücken schon mal nivellieren.

Feine Strukturen und eine erstaunliche konzertante Vielfalt in einem Ensemble, das von einem mit schwarzen Handschuhen gespielten E-Bass aus geleitet wird, erlebte das Publikum bei der Band des aus Kamerun stammenden Musikers Étienne M'Bappé. Die "Earth Wind & Fire Experience" um Gitarrist Al McCay stellte sich als eine äußerst gekonnte Hommage an die soulig-funky einheizende Musik der einstigen Original-Band heraus – und nicht als zweifelhafter Neu-Aufguss wie letztes Jahr die wiederbelebten Verwandten von "Blood, Sweat & Tears". Bläsersätze wie Stichflammen, drei hervorragende Lead-Sänger – und eine Rhythmusgruppe, die makellosen Halt bot: So hörte man Songs wie "Got to get you into my life" oder auch "Fantasy" wieder und konnte enorme Soli genießen, etwa von Saxophonist Ed Wynne, der es versteht, die Töne immer noch höher zu peitschen – ob am Alt- oder Tenorsaxophon.

Entdeckung im Keller

Das Festival in Burghausen ist explizit keine Neuheiten-Messe. Dennoch können auch Neuheiten-Sucher hier in einzelnen Konzerten Entdeckungen machen. Die voller existentieller Kontraste steckende Musik des Trios "Rymden" (schwedisch für "Raum") mit Pianist Bugge Wesseltoft sowie Bassist Dan Berglund und Schlagzeuger Magnus Öström, den beiden einstigen Partnern des tödlich verunglückten Esbjörn Svensson, stürzte das Publikum am Samstag im Stadtsaal in ein stets überraschendes Heiß und Kalt, wechselte von lyrischer Innigkeit ganz selbstverständlich zu gewitternden Düster-Sounds und trieb zudem ein witziges Spiel mit Stücktiteln: "The lugubrious youth of Lucky Luke" hieß einer. Das Münchner Trio "LBT", das diesmal den Nachwuchs-Preis gewann, verblüffte mit einer noch perfekteren Variante seines auf akustischen Instrumenten erzeugten Techno-Sounds. Mit einer Fahrradfelge statt eines Beckens am Schlagzeug sowie einer mit dem Bogen gestrichenen Speiche unter dem Deckel des Flügels verbeugten sie sich auch vor dem Rock-Avantgardisten Frank Zappa, der bereits 1963 ein Fahrrad als musikalische Klangquelle nutzte. Eine der schönsten Entdeckungen dieses Festivals konnte man die ganze Woche lang im Jazzkeller im Mautnerschloss machen, wo ohnehin das Herz des Festivals pocht: Der gerade 21 Jahre alt gewordene Pianist und Hammond-Organist Simon Oslender spielte hier im Trio mit Schlagzeuger Wolfgang Haffner und Bassist Jean-Philipp Wadle – und bescherte mit einem von immenser Ruhe geprägten Spiel Sternstunden. Selten hört man Musiker, die eine Melodie so plastisch und ergreifend formen können wie Oslender. Von ihm und seinen beiden Partnern nachts um drei die Ballade "My Funny Valentine" in einer Interpretation zu hören, die fast die Zeit anhält, ist ein Burghausen-Erlebnis besonderer Art: So eines vergisst man nicht so schnell wieder. Vielleicht bleibt es im Gedächtnis bis zum nächsten Jubiläum.

Die 51. findet jedenfalls vom 17. Bis zum 22. März 2020 statt – und nach Auskunft des künstlerischen Leiters Joe Viera auch wieder mit ihm: "Zum Aufhören habe ich keine Zeit".

Konzerte zum Anschauen

    AV-Player