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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 12 Hören wir Gutes und reden darüber!

Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet, hier die 12. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber".

Cover Wolfert Brederode: Ruins and Remains | Bildquelle: ECM Records

Bildquelle: ECM Records

Jazztime - 11.10.2022

News & Roots: Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 12

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 12" hier zum Nachhören - mit aus rechtlichen Gründen gekürzten Musikstücken.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Ulrich Habersetzer und Roland Spiegel zum zwölten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende vier Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Wolfert Brederode, Matangi Quartet, Joost Lijbaart: "Ruins and Remains" ECM 2734 (LC 02516)

Diese Aufnahmen bringen das Spiel zweier Jazzmusiker außergewöhnlich organisch mit demjenigen eines klassisch besetzten Streichquartetts zusammen. Klavier, Percussion, zwei Violinen, Viola und Cello: Das sind die Instrumente in "Ruins and Remains". Zu hören ist eine 14-teilige Suite des 1974 geborenen niederländischen Pianisten und Komponisten Wolfert Brederode. Ihn kennt man außer von eigenen Stücken auch aus der Zusammenarbeit mit der Sängerin Susanne Abbuehl und mit international so bekannten Solisten wie Michel Portal. Diese Suite schrieb Brederode einst als Auftragskomposition zum 100. Jahrestag des Endes vom Ersten Weltkrieg, 2018. Im Jahr 2021 nahmen er und die anderen die Suite im akustisch hervorragenden Sendesaal Bremen auf. Es ist eine Musik, die mal rätselhaft verschattet, mal zart aufblühend klingt – mit feinen, ganz hoch pfeifenden Streichertönen, die sich zuweilen mosaikhaft zusammensetzen, lyrisch-sensiblen Klavierparts und leise den Raum öffnenden Schlagzeug- und Percussion-Akzenten. Auf ungewöhnliche Art schön ist diese Musik, die immer wieder zu berückenden Melodien findet. Um "Trauer, Verlust und das Lernen, wieder aufzustehen" geht es laut dem Komponisten in dieser Suite, die durch die aktuellen Ereignisse beklemmende Aktualität erfährt.

Karolina Strassmayer & Drori Mondlak: "Quiet Fortitude", Lilypad Music LPM 625 (LC 18906)

Cover Karolina Strassmayer: Quiet Fortitude | Bildquelle: Lilypad Music Bildquelle: Lilypad Music Seit fast zwanzig Jahren leitet die Saxophonistin und Flötistin Karolina Strassmayer zusammen mit dem New Yorker Schlagzeuger Drori Mondlak, ihrem Partner in der Musik und im Leben, eigene Bands. Ihr elftes gemeinsames Album "Quiet Fortitude" haben sie zusammen mit dem Bassisten Hans Glawischnig und dem Vibraphonisten David Friedman live im Konzert eingespielt, und eine der Besonderheiten ist dabei, dass fünf der insgesamt neun Stücke gemeinschaftlich improvisiert wurden. Und doch klingen sie wie auskomponiert und lassen dabei viel solistischen Raum für alle Spieler*innen, der genüsslich und hochspannend befüllt wird. Lyrisch und sehr gesanglich ist die Musik über weite Strecken und schöpft im ruhig energievollen Interplay - immer wieder intensive Höhepunkte ansteuernd - aus den Lehren der Jazzgeschichte. Die große poetische Linienführung, die dem Quartett gelingt, funktioniert auch, wenn die Band von Bebop durchdrungenen Modern Jazz spielt, bei dem sich Karolina Strassmayer am Altsaxophon in die Traditionslinie von Jahrhundertspielern wie Michael Brecker begibt - und besteht. Nicht umsonst wurde die Österreicherin, die 15 Jahre in New York gelebt hat, von den Lesern des amerikanischen "Downbeat Magazines" mehrfach in die "Top Five" der Altsaxophonisten gewählt. Und das war noch bevor sie 2004 als erste Musikerin überhaupt eine Festanstellung in einer deutschen Radio Bigband bekam, und zwar beim WDR. Doch auch auf ihrem eigentlichen Erst-Instrument seit Kindertagen, der Querflöte, fasziniert Karolina Strassmayer mit fesselnden Tönen vom ersten Moment an. Dunkel timbriert und leuchtend zugleich sind sie und strahlen, wie die gesamte Musik, das aus, was der Albumtitel verspricht: ruhige Stärke.

Tobias Hoffmann Trio: "Slow Dance", Klaeng Records 066 CD (LC 30645)

Cover Tobias Hoffmann Trio: Slow Dance | Bildquelle: Klaeng Records Bildquelle: Klaeng Records Ein Paar tanzt, sie trägt ein gelbes Kleid, er ein blaues Hemd. Ihr Kopf liegt an seiner Schulter. Langsam tanzen die beiden und die Lichtpunkte einer Diskokugel scheinen wie Schneeflocken durch den Raum zu schweben. Dahinter sitzt eine Band und spielt "absurd langsame Musik".
So sieht das Cover des herrlichen Albums "Slow dance" vom Tobias Hoffmann Trio aus. Seit zehn Jahren interpretiert der Gitarrist, Jahrgang 1982 aus Remscheid, zusammen mit E-Bassist Frank Schönhofer und Schlagzeuger Etienne Nillesen Rock Hits und anderes - auf eine sehr eigene, seltsam wunderbare und Ohren öffnende Art.
In den letzten Jahren hat Tobias Hoffmann Alben mit den augenzwinkernden Titeln "11 famous songs tenderly messed up" oder "Blues Ballads and Britney" herausgebracht. Diesmal sind es Songs von Bruce Springsteen, Neil Young, Carol Kind oder den Doors, die das Trio in musikalischer Zeitlupe betrachtet. Genüsslich werden die Melodie gedehnt, verformt und entschleunigt. Dabei lässt die Band einen eigentümlich knisternden Sound entstehen. Wolkig wabern die Töne vorbei, der Beat wird fast bis zur Unendlichkeit zerdehnt. Das alles wirkt aber nicht künstlich und auf Effekt getrimmt, sondern grooved, wenn auch sehr langsam.
Higlights sind etwa die 8-minutige Version von Bruce Springsteens "The River" oder der Eröffnungstitel "Loco-Motion". Und ein schnelles Stück finde sich auch auf "Slow Dance": "Politican" von der Band "Cream". Diesen Song spielt das Tobias Hoffmann Trio sogar viel schneller als im Original, Geschwindigkeit ist eben relativ.

Ray Anderson: "Marching On - Solo Trombone", Challenge Records DMCHR71416 (LC 01221)

Cover Ray Anderson: Marching On – Solo Trombone  | Bildquelle: Challenge Records Bildquelle: Challenge Records Sie kreischt, sie grummelt, sie fiept, sie dröhnt. Sie schmirgelt, sie schmettert. Und zieht einen dabei zielsicher in ihren Bann. Es ist die Posaune des amerikanischen Musikers Ray Anderson. Der zählt seit den 1980er Jahren zu den profiliertesten Vertretern seines Instruments in der internationalen Jazz-Szene, hat mit Improvisatoren wie dem Saxophon-Virtuosen Anthony Braxton, Popmusikern wie Dr. John, Avantgardist:innen wie Erika Stucky gearbeitet und freien Jazz-Ausdruck stets mit einer besonderen Entertainment-Begabung verbunden. Der 1952 in Chicago geborene Musiker kann zum Beispiel mitreißend singen und durch einen Trick seine Stimme live auch ganz allein zweistimmig ertönen lassen. Hier nun beschränkt er sich auf die Posaune, das Instrument, zu dem ihn einst die Dixieland-Plattensammlung seines Vaters brachte. Und führt das Instruments durch seine sprudelnde Spiellust zu einer verblüffenden Klang- und Ausdrucksvielfalt. Die Stücke sind Eigenkompositionen wie das voll funkensprühender Geräuschfülle steckende "Early morning in the Andersonorious Jungle", aber auch Instrumentalversionen von Songs wie "Moon River" (der Lieblingssong von Andersons Frau) und "Equinox" von Saxophonist John Coltrane (dessen Musik und Geist für Anderson eine besondere Inspiration ist). Das Album hat Anderson dem Bürgerrechtler John Lewis gewidmet, einem wichtigen Mitstreiter Martin Luther Kings. Lewis erlitt 1965 bei einem der Civil-Rights-Märsche in Alabama durch Polizeigewalt eine Schädelfraktur, blieb aber dem friedlichen Kampf für Gleichberechtigung Jahrzehnte lang treu. Er lebte von 1940 bis 2020. Posaunist Ray Anderson begegnete ihm einst, improvisierte ein Stück für ihn - und erarbeitete daraus die Komposition, die zum Titelstück dieses faszinierenden Albums wurde.

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