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Joni Mitchell zum 80. Geburtstag Das Leben von vielen Seiten

Die Kanadierin Joni Mitchell war 21 und wollte eigentlich Malerin werden, als sie in einer Lebenskrise den Song "Both sides now" schrieb. Er wurde zum zeitlos gültigen Hit und sie die bedeutendste und wandlungsfähigste Singer-Songwriterin des 20. Jahrhunderts - mit enger Bindung auch an den Jazz. Am 7. November ist ihr 80. Geburtstag.

Joni Mitchell im Jahr 2023 | Bildquelle: picture alliance / ASSOCIATED

Bildquelle: picture alliance / ASSOCIATED

Roberta Joan Anderson kam am 7. November 1943 in Fort Macleod zur Welt und wuchs in der kanadischen Provinz Saskatchewan in bescheidenen Verhältnissen auf. Schon in der zweiten Klasse wusste sie, dass sie Künstlerin werden wollte: Malerin. Und sie beherzigte den Rat eines Lehrers, ihr Talent auch aufs Dichten auszuweiten.

If you can paint with a brush, you can paint with words.
Joni Mitchell

Die neue Lust am Reimen traf auf ihren ausgefallenen musikalischen Geschmack. Die Klänge, die entstanden, wenn sie "London Bridge is falling down" auf einer Drehleier rückwärts spielte, fand sie spannend.  Die Liebeslieder der Crooner aus dem Radio auch, nur waren ihr die Texte zu vorhersehbar.

Vom Kirchenchor über Rachmaninow zum Jazz

Sie sang Sopran im Kirchenchor und lernte in den Pausen das Rauchen. Da war sie aber erst neun, und gerade von einer schweren Polio-Erkrankung genesen. Völlig begeistert war sie von Sergej Rachmaninows "Rhapsodie über ein Thema von Paganini", ein Stück, das sie aus einem Film mit Kirk Douglas kannte und sich Tag für Tag im Vorführraum des Plattenladens in ihrem kleinen Heimatort anhörte. Dort entdeckte sie als Teenager auch das Jazzvokal-Trio "Lambert, Hendricks & Ross". Den Klavierunterricht ließ das freiheitsliebende Mädchen sofort sausen, als sie Schläge auf die Finger bekam, weil sie ihr erstes eigenes Lied vorspielte, und lernte lieber Gitarre zu spielen.

Malerei, erste Auftritte, Krise

Mit 19 begann Joni Mitchell an der Kunstschule in Calgary Malerei zu studieren, wurde schwanger von ihrem ersten Freund, bekam eine Tochter, schlug sich mit kleinen Jobs und ersten Auftritten als Folksängerin durch und gab das Baby schließlich zur Adoption frei. Tiefe Krisen wie diese konnte sie nur in Songs verarbeiten, deswegen wurde Roberta Joan Anderson Musikerin.  

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Little Green -- Joni Mitchell | Bildquelle: Victor Hageman (via YouTube)

Little Green -- Joni Mitchell

Nach einer kurzen Ehe mit dem Folksänger Chuck Mitchell, mit dem sie in die USA ging, erspielte sich die ätherisch schöne Mittzwanzigerin mit der glockenhellen Stimme eine Fangemeinde in den Coffeeshops im Greenwich Village in New York. Die Texte ihrer Songs waren häufig regelrechte Innenschauen, schmerzlich persönlich und dabei universell gültig.

Noch vor erstem Album Inspiration für Andere

Noch bevor Joni Mitchell 1967 das erste Mal selbst ins Studio ging - mit 25 Songs im Gepäck, von denen andere nur hätten träumen können, wie David Crosby, der ihr zum ersten Plattenvertrag verholfen hatte, später erzählte - hatten schon etliche Kolleginnen Stücke von ihr aufgenommen. Judy Collins etwa die erste von inzwischen weit über tausend Versionen von "Both sides now", Buffy Sainte Marie ihr "Circle Game".

Joni Mitchell: Die Klang-Erfinderin

Zu ihrem besonderen Sound gehörten viele verschiedene, harmonisch offene Gitarrenstimmungen. Aus ihnen entstanden Akkorde, die Joni Mitchell selbst "Chords of inquiry" nannte, forschende Akkorde, die mit ihrem offenen Charakter zu den Fragen passten, die sie in ihren Stücken an sich, das Leben und die Welt stellte. Später entzifferten die Musiker der Jazzband L.A.Express, mit der sie auf Tour ging, ihre Komplexität und analysierten ihre ungewöhnlichen Songformen.

Dass es vor allen Dingen Sus-Akkorde seien, mit denen sie Spannung in ihre Stücke brachte, weil sie sich wegen der fehlenden Terz nicht eindeutig als Dur oder Moll identifizieren lassen, erklärte ihr der Jazzsaxophonist Wayne Shorter. Bevor sie ihre Songs aber mit Jazzgrößen wie ihm, Herbie Hancock, Pat Metheny, Michael Brecker und Jaco Pastorius spielte, musste sie erst einmal berühmt werden. Und das ging schnell.

Erster Grammy

Schon für ihr zweites Album "Clouds" von 1969 bekam Joni Mitchell den ersten der insgesamt zehn Grammys in ihrer Laufbahn. Sie zog nach Los Angeles und im selben Jahr komponierte sie den Song "Woodstock". Ohne selbst dort aufgetreten oder vor Ort gewesen zu sein, erfasste sie den Spirit des unverhofft zum Jahrhundertereignis gewordenen Festivals und verschaffte ihm seine Hymne. 

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Joni Mitchell - Woodstock (Live In-Studio 1970) | Bildquelle: sonicboy19 (via YouTube)

Joni Mitchell - Woodstock (Live In-Studio 1970)

Joni Mitchell erwies sich als genaue Beobachterin und begnadete Erzählerin. In ihre Songs fließe die Ambition der Filmemacherin, die sie auch gerne geworden wäre, sagte sie einmal. In ihren Texten finden sich gedichtbandtaugliche Sprachbilder, die zu Bildern im Kopf ihrer Hörer werden können. Ganz Malerin in der Musik und zugleich messerscharfe Analytikerin ist sie in Zeilen wie diesen aus ihrem vielfach gecoverten Song "A case of you":

Aus "A case of you"

Just before our love got lost you said
I am as constant as a northern star
And I said
Constantly in the darkness where´s that at
If you want me I´ll be in the bar
 

Früh in ihrer Karriere sagte sie einmal, an Bob Dylan fasziniere sie das Narrative, die längeren Erzählstrukturen – und wie er aus seinen Texten heraus direkt seine Zuhörer anspreche – das wolle sie auch, aber zusätzlich einen harmonisch-melodischen Zusammenhang mit der Musik. Das zu vereinen, ist Joni Mitchell in ihrer langen Karriere grandios gelungen und sie hat dafür auch immer wieder musikalisches Neuland erkundet.

Mitchell und Mingus

Auf den fünf Alben nach ihrer höchst erfolgreichen Einspielung "Court and Spark" von 1974 wurde Joni Mitchell immer jazziger. Auch der legendäre Bassist Charles Mingus wurde auf sie aufmerksam. Ein Koloss der Bebop- und Hardbop-Ära mit einem Ruf wie Donnerhall, der sich in seiner Biographie "Beneath the Underdog" als schillernde, aber zutiefst gespaltene Persönlichkeit offenbarte. Als er sich bei Joni Mitchell meldete, war er an ALS erkrankt und hatte den Tod vor Augen.

Mitchell schrieb Texte zu einigen seiner Klassiker aus den 1950er-Jahren und verknüpfte sie mit eigenen Songs. In enger Kommunikation mit ihm entstand das Album "Mingus", das zwei Tage nach seinem Tod im Januar 1979 fertig aufgenommen war. Nie habe sie die Uhr so laut ticken hören wie bei der Arbeit an diesem Album, sagte sie später, es sei ihr darum gegangen, Charlie glücklich zu machen und sich selbst dabei treu zu bleiben.

Die Reaktionen: Gemischt

Das Album – ihr elftes – wurde zu einem Klassiker der Sängerin und Komponistin, war aber auch ihr erstes, das nicht sofort den Goldstatus mit 500.000 verkauften Kopien erreichte. Auch die Reaktion der Journalisten war gespalten, aber das war Joni Mitchell inzwischen gewohnt. Die ersten Verrisse hatte sie schon einige Jahre zuvor kassiert für ihr Album "The hissing of summer lawns", obwohl es sich sehr gut verkaufte und auf Platz 4 der Albumcharts gelandet war.

Manche Kritiker verübelten ihr, dass sich ihr romantischer Tonfall der frühen Jahre gewandelt hatte und sie ihre eigenwillig schönen Sprachbilder jetzt auf messerscharfe Beobachtungen von Beziehungsgeschichten verwandte, und von einer Gesellschaft erzählte, unter deren glatter Oberfläche die Verhältnisse zwischen Mann und Frau nicht stimmten. Das war nicht mehr die schöne Sängerin, die sich aufs Persönliche beschränkte und als Projektionsfläche für das eigene Wunschdenken dienen konnte.
"An emotional scientist" nannte sie ihr zweiter Mann, der Bassist und Produzent Larry Klein. Nachdem sie vierzehn Alben in Eigenregie gemeinsam mit dem Toningenieur Henry Lewy aufgenommen hatte, arbeitete sie in den 1980er- und 90er-Jahren eng mit ihm zusammen.

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Joni Mitchell - Sex Kills (Live In-Studio 1995) | Bildquelle: sonicboy19 (via YouTube)

Joni Mitchell - Sex Kills (Live In-Studio 1995)

Politische Brisanz

Ihre Musik wurde rockiger und in ihren Texten griff sie in zunehmend lauen Zeiten für engagierte Singer-Songwriter immer öfter politisch relevante Themen auf. Umweltfragen, soziale Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch, der Umgang mit den amerikanischen Ureinwohnern und der sogenannten Dritten Welt waren Themen ihrer Songs.

Zusammenarbeit mit London Symphony Orchestra

Sängerin Joni Mitchell | Bildquelle: Reprise Records Joni Mitchell - "Both sides now" | Bildquelle: Reprise Records Auf Initiative von Larry Klein nahm Joni Mitchell im Jahr 2000 das symphonische Album "Both sides now" in London auf. Vince Mendoza hatte Jazzklassiker und ihren titelgebenden größten Hit arrangiert, und leitete das Orchester, in dem viele Musiker der London Symphony spielten. Das Ergebnis war so beeindruckend, dass sie zwei Jahre später das ebenfalls symphonische Doppel-Album "Travelogue" produzierten, auf dem ausschließlich Joni Mitchells eigene Kompositionen in den großorchestralen Sound überführt wurden.

Ihr nächstes Album "Shine" im Jahr 2007 spielte sie in kleiner Besetzung ein. Es war die Grundlage für ihre erste Ballettmusik. Die zweite brachte sie 2014 heraus auf einer Box mit vier CDs, auf der sie 53 ihrer Songs zusammenfasst zu einer Geschichte in vier Akten."You turn me on I´m a radio", "River", "Come in from the cold", "Blue", "Hejira", "Just like this train", "Carey" und "Being cool" gehören unter anderem zu ihrer Auswahl. "A ballet waiting to be danced" nannte sie dieses letzte große Werk, dessen Cover und Booklet – wie bei allen ihrer 22 Alben und zehn Compilations – ihre eigenen, gegenständlichen Gemälde zieren. Häufig sind es Selbstporträts.

Hirnschlag 2015

Nach einem Gehirnschlag im Frühjahr 2015 war Joni Mitchell längere Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie zog sich weitestgehend zurück und tauchte zunächst nur hin und wieder in der Öffentlichkeit auf – etwa bei den Geburtstagsfeiern von Chick Corea und Elton John. Doch auch in dieser Phase ihres Lebens wurde der große Einfluss, den sie mit ihrer Kunst auf die internationale Musikszene hat, deutlich.

Einfluss auf Björk, Prince, Taylor Swift

Zu den fünfzehn Stars, die 2016 in einem "Rolling Stone" Artikel damit zitiert wurden, wie sehr sie Joni Mitchells Musik und Textbotschaften inspirieren, gehörten Björk, Neil Diamond, Herbie Hancock, Prince und Taylor Swift. Nach sieben Jahren kontinuierlicher Genesung konnte Joni Mitchell im Sommer 2022 zum ersten Mal wieder auftreten.

Comeback 2022

Beim Newport Folk Festival residierte sie außerordentlich guter Dinge in einer Art Thronsessel inmitten einer großen Schar von Singer-Songwritern, die etwa halb so alt sind wie sie und von Brandi Carlile angeführt wurden. Den Großteil des Singens übernahmen die jüngeren chorisch und solistisch, während Joni Mitchell selbst nur ab und an mit ihrer jetzigen Kontra-Alt-Stimme, die in Tonfall und Klang an große Jazzsängerinnen wie Shirley Horn und Nina Simone erinnert, einstieg. Das Happening ist im Sommer 2023 auf CD erschienen. Elf weitere Songs von Joni Mitchell befinden sich darauf. Im Frühjahr 2023 wurde ihr auch der Gershwin Prize for popular song der Library of Congress in Washington verliehen, der nun in Reihe mit ihren zehn Grammys, dem schwedischen Polar Music Prize und dem 2004 an sie verliehenen, höchsten zivilen Orden ihrer ursprünglichen Heimat Kanada steht.

Ihrem Biographen Brian Hinton sagte die Sängerin und Komponistin, Gitarristin und Pianistin einst, ihre Musik solle ein Leben lang halten, so wie ein feiner Stoff. Es ist anzunehmen, dass Joni Mitchell noch viel länger halten und die Zeit überdauern wird – so wie eine Jahr für Jahr wertvoller werdende Tapisserie.

Joni Mitchell auf BR-KLASSIK:

"Jazztime" am Dienstag, 7. November 2023, ab 23:05 Uhr
"Jazztime" am Mittwoch, 8. Dezember 2023, ab 23:05 Uhr

Kommentare (2)

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Dienstag, 07.November, 20:05 Uhr

Roland

80. Geburtstag joni mitchell

super Biografie für eine der Besten. Man muß sich in Ruhe näher mit ihrer Musik u. Texten befassen dann erfasst man was sie für grossartige Musik machte.

Dienstag, 07.November, 17:26 Uhr

Walter knoebl

80. Geburtstag joni mitchell

Sehr schöne Zusammenfassung ihrer musikalischen Karriere, großes Lob!

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