Ob Mendelssohn, Hensel, Zemlinsky oder Korngold – die Sopranistin Chen Reiss widmet sich gerne der Musik jüdischer Komponistinnen und Komponisten. Mit ihrem neuen Album "Jewish Vienna" wirft sie einen Blick in das Wien um 1900 – und findet wahre Schätze.
Bildquelle: Paul Marc Mitchell
BR-KLASSIK: Frau Reiss, "Jewish Vienna" heißt Ihr neues Album. Da geht es um das jüdische Wien um 1900. Das war damals DIE Kulturstadt Europas – neben Paris – mit einer reichen jüdischen Kultur. Das war wahrscheinlich eine Fundgrube für ein neues Album, oder?
Chen Reiss: Ja, genau. Das war der Grund. Und Wien ist meine Lieblingsstadt, wenn ich das so sagen darf. Ich habe dort fast zehn Jahre an der Oper gesungen, und die Musik von Mahler, von Korngold, von Zemlinsky hat mir immer sehr am Herzen gelegen. Und ich wollte schon immer ein Album dieser wunderbaren Zeit in dieser unglaublichen Stadt widmen. Ich würde sagen, Wien ist eigentlich bis heute die Hauptstadt der klassischen Musik. Wenn ich durch Wien laufe, da hat fast jedes Gebäude eine Geschichte, die mit Musik verbunden ist. Entweder mit der von Mozart oder Beethoven oder später dann auch Schönberg und Korngold. Das sind alles wunderbare Komponisten, die dort gelebt haben. Und was ich auch ganz interessant fand: Wien ist wie ein Salon. Es ist eine kleine Stadt. Und jeder kennt jeden – bis heute. Das hat natürlich Vor- und Nachteile. Aber was die Musik aus dieser Zeit um 1900 angeht, hat es, glaube ich, große Vorteile.
Wien ist eigentlich bis heute die Hauptstadt der klassischen Musik.
BR-KLASSIK: Sie haben zwei Akzente gesetzt für Ihr Album: Alexander Zemlinsky und Erich Wolfgang Korngold. Was ist das für ein Zemlinsky, den wir da hören? Was sind das für Lieder?
Chen Reiss: Das sind die "Walzer-Gesänge" von Zemlinsky. Die sind sehr wienerisch. Einfach entzückend, wie kleine Perlen. Sie sind anders als die Lieder von Mahler, die ein ganzes Universum in sich tragen. Es sind vielmehr kleine Momente, wie eine Postkarte aus Wien.
Werke von Alexander Zemlinky und Erich Wolfgang Korngold
Chen Reiss
Jewish Chamber Orchestra Munich
Daniel Grossmann, Leitung
Veröffentlichungsdatum: 25. April 2025
Label: Onyx Classics
Das sind traumhafte Lieder.
BR-KLASSIK: Mit Korngold-Liedern habe ich vor einigen Jahren den Bariton Andrè Schuen in einer Liedermatinee gehört. Ich war diesen Liedern sofort verfallen, dieser Melodienfülle, dieser geheimnisvollen Atmosphäre. Wann haben Sie Korngold entdeckt?
Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) | Bildquelle: picture-alliance/dpa
Chen Reiss: Vor ungefähr fünf Jahren. Ich habe eine andere Sammlung von ihm gesungen: Einfache Lieder, Op. 9. Diese Lieder werde ich auch am Wochenende in München singen. Die sind traumhaft und diese Lieder hat er ganz früh geschrieben, als Teenager, mit 14. Und er hat sie sogar orchestriert. Es ist beeindruckend, wie viel Kenntnis und Begabung er schon in diesem jungen Alter hatte. Seine erste Oper hat er sogar noch früher geschrieben. Aber die hat Zemlinsky orchestriert. Zemlinsky war nämlich eine Zeit lang der Lehrer von Korngold. Und Korngold hat als Kind wahrscheinlich auf einem Klavier gespielt, das ursprünglich Zemlinsky gehörte. Diese Lieder Op. 9 sind ganz wienerisch, das werden Sie hören. Die Lieder, die wir auf der CD aufgenommen haben, kommen ein bisschen später: Op. 29 und Op. 31 wurden zwischen 1937 und 1941 geschrieben.
BR-KLASSIK: Da hat er wahrscheinlich schon gespürt, dass er Wien irgendwann verlassen muss...
Jewish Chamber Orchestra unter der Leitung von Daniel Grossmann | Bildquelle: Robert Brembeck
Chen Reiss: Genau. Diese Shakespeare-Lieder hat er in Wien angefangen, aber erst in Amerika zu Ende komponiert. Sie sind auch ganz anders. Ich würde sagen, da hört man die englische Atmosphäre. Ich glaube, weil die Texte von Shakespeare stammen, gibt es sehr viele Melodien dort, die uns an englische Volksliedern erinnern. Diese Lieder hat Korngold – soweit ich weiß – nicht orchestriert. Die waren nur für Klavier und Stimme. Aber ich finde, diese Lieder sind wie kleine Szenen einer Oper. Sie sind sehr dramatisch und schreien nach Orchestrierung. Deshalb haben wir sie auf der CD für Kammerorchester orchestriert, für das Jewish Chamber Orchestra München.
BR-KLASSIK: Frau Reiss, wer war Josefine Winter, die mit einem Lied auf dem Album vertreten ist?
Chen Reiss: Sie wurde 1873 in Wien geboren. Als Frau konnte sie zu der Zeit damals nicht so frei komponieren. Sie kannte auch Gustav Mahler und war sehr aktiv in der Wiener Musikszene. Sie ist sogar nach München gefahren zur Uraufführung von Mahlers 8. Symphonie. Und nach dem "Anschluss" von Österreich 1938 musste sie als Jüdin ihre Wohnung verlassen. 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert und ist dort auch gestorben. Wir haben sehr, sehr wenig Musik von Josefine Winter. Aber ich finde dieses Lied sehr besonders und sehr berührend. Und man hört, wie talentiert sie war. Es ist wirklich ein Verlust, dass wir nicht mehr Musik von dieser Frau auf unserem Album haben.
BR-KLASSIK: Auf diesem Album werden Sie vom Jewish Chamber Orchestra begleitet unter der Leitung von Daniel Grossmann. Wie und wann haben Sie denn mit dem Orchester zusammengefunden? Seit wann kennen Sie sich?
Chen Reiss: Wir kennen uns eigentlich seit der Covid-Zeit. Ich glaube, das erste Projekt war Anfang 2021. Wir haben eine CD aufgenommen mit Liedern und dramatischen Szenen von Fanny Hensel und Felix Mendelssohn. Auch eine interessante Geschichte. Wieder eine Frau, die nicht frei war, so zu komponieren, wie sie wollte. Nach dem Erfolg des ersten Albums dachten wir: Okay, was wäre unser nächstes Projekt? Zusammen mit Daniel Grossmann haben wir diese Lieder gefunden und dieses Album zusammengestellt. Wir werden mit dem Programm hoffentlich viele Konzerte geben. Ich finde, Korngold und Zemlinsky sind unterschätzt. Ich bin davon überzeugt, dass junge wie auch ältere Leute diese Musik lieben werden. Ich denke, dass sie gerade für ein junges Publikum sehr reizvoll sein kann.
17. und 18. Mai 2025, um 19 Uhr
Isarphilharmonie, München
Werke von Franz Schreker, Raminta Šerkšnytė, Erich Wolfgang Korngold und Felix Mendelssohn Bartholdy
Chen Reiss, Sopran
Münchner Philharmoniker
Giedrė Šlekytė, Dirigentin
Sendung: "Allegro" am 14. Mai 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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