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Osterfestspiele Salzburg Christian Gerhaher singt "Ein deutsches Requiem"

Bei Brahms fühle er sich oft wie eine Bratsche, so Bariton Christian Gerhaher im Interview mit BR-KLASSIK und die Textwahl des Komponisten sei für ihn manchmal befremdlich. Bei den Salzburger Osterfestspielen singt Christian Gerhaher mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Gewandhausorchester unter Andris Nelsons "Ein Deutsches Requiem" von Johannes Brahms. Vorher sprach er mit Bernhard Neuhoff.

Der Bariton Christian Gerhaher | Bildquelle: Gregor Hohenberg / Sony Classical

Bildquelle: Gregor Hohenberg / Sony Classical

Zu Brahms' "Deutschem Requiem"

Interview mit Christian Gerhaher

Bernhard Neuhoff: Christian, ich finde, Brahms hat bei den Liedern oft eine eigenartige Textwahl. Aber wenn er die Bibel vertont, hat er einen fantastischen Geschmack und einen unglaublichen Spürsinn – immer die aufregendsten und auch poetisch stärksten Texte gewählt. Wie geht es Dir mit den Texten, die Brahms gewählt hat und mit dem Konzept von dem deutschen Requiem? Das ist ja seine Idee.

Christian Gerhaher: Die Textfarbe bei Brahms wirft schon ein paar Fragen auf. Brahms war sehr belesen und hatte eine unglaubliche Bibliothek. Und dass er dann für seine Lieder, die so bedeutend und singulär in ihrer Art sind im deutschsprachigen Kunstraum des 19. Jahrhunderts sind, doch relativ schwache Texte gewählt hat ... das meine ich jetzt nicht bös! So etwas wie Klaus Groth ist ja eigentlich Wahnsinn.

Bernhard Neuhoff: Zweitklassig …

Christian Gerhaher: Ja, allenfalls. Vielleicht ist es so, dass sich Brahms durch den Anfangsgehalt eines Gedichtes beeindrucken hat lassen. Schönberg hat mal so fantastisch geschrieben: Man muss die Texte eigentlich im Detail gar nicht kennen, um ein Schubert-Lied zu verstehen, weil sie so im Ganzen begriffen sind. Und weil dieses Begreifen eines Textes beim Komponieren auch gleich die Intuition für das ganze Lied hergibt. Ein bisschen ist das bei Brahms so, und es passieren dann manchmal seltsame Dinge: Er hat diese Anfangsintuition, schreibt ein Musikstück dazu und muss dann aber den Text unterlegen. Und der Text ist manchmal eine Art Kontrafaktur, hat also mit der Musik gar nicht mehr so viel zu tun, zumindest nicht im Detail. Und das geht manchmal sogar so weit, dass die Syntax des Textes durch die Stimmführung und die musikalische Artikulation einfach nicht mehr ganz verständlich ist.

Wenn man Brahms-Lieder dann singt, dann fühlt man sich oft nicht mehr als Sänger.
Christian Gerhaher

Radio-Tipp

Den Livemitschnitt vom 3. April aus dem Großen Festspielhaus in Salzburg sendet BR-KLASSIK am 2. Mai 2023 ab 20:05 Uhr. Andris Nelsons leitet den Chor des BR und das Gewandhausorchester Leipzig. Solisten sind die Sopranistin Julia Kleiter und der Bariton Christian Gerhaher.

Bernhard Neuhoff: Man könnte also fast sagen, Brahms hat sich von einem Text irgendwie emotional berühren lassen, dann tolle Musik gemacht. Und dann war der Text fast irgendwie egal. Ich habe es jetzt etwas böse ausgedrückt.

Christian Gerhaher: So in etwa könnte man das beschreiben. Ich versuche auch, das nicht zu kritisch zu sehen, denn das steht mir nicht zu. Aber es entsteht ein interessantes Phänomen: Wenn man Brahms-Lieder singt, dann fühlt man sich oft nicht mehr als Sänger, noch nicht mal als Instrumentalist – sondern fast als Instrument. Ich fühle mich dann wie eine Bratsche. Und das beschreibt vielleicht auch diesen besonderen Reiz, den diese Lieder ausmachen, ganz gut. Es hat was ungeheuer Sinnliches.

Bernhard Neuhoff: Bratsche oder Cello?

Christian Gerhaher: Bratsche eher! Sie ist vielleicht nicht das beliebteste Streichinstrument. Viele Leute sagen, sie lieben das Cello so sehr wegen des warmen Klangs. Aber die Bratsche hat klanglich vielleicht meiner Ansicht nach die größte Vielfalt unter den Streichinstrumenten.

Bernhard Neuhoff: Oft sagen Instrumentalmusiker, sie würden sich an der Stimme orientieren. Nimmst Du dir manchmal auch Instrumentalisten zum Vorbild? Gibt es Bratscher, Bratschistinnen, die Dich inspirieren?

Christian Gerhaher: Also, es gibt natürlich eine Bratschistin, die mich wahnsinnig inspiriert. Das ist Tabea Zimmermann (in der Saison 2022/2023 Artist in Residence beim BRSO – Anm.d.Redaktion). Aber auch Antoine Tamestit, mit dem ich eine Tournee gemacht habe. Ich finde, die Bratsche ist ein wunderbares Instrument und ist deswegen besonders angenehm zu hören, weil sie so viele verschiedene Farben hat, die mich in eine Gesangswelt entrücken, an der ich dann nicht teilnehmen muss.

Brahms' Super-Dramatik

Bernhard Neuhoff: Zurück zum "deutschen Requiem". Ich finde, wenn Brahms mit der Bibel gearbeitet hat, dann hatte er, anders als bei Gedichten, einen unglaublich guten Zugriff. Da sind wahnsinnig starke Texte im "deutschen Requiem", oder?

Christian Gerhaher: Finde ich auch! Ich möchte jetzt nicht zu kritisch sein. Ich finde den Text des fünften Satzes im  Sopran-Solo "Ihr habt nun Traurigkeit" vielleicht ein bisschen problematisch: Wenn dann der Männerchor raunt, "wie einen seine Mutter tröstet" – ich finde das fast ein bisschen zu privat. Ich möchte es nicht unbedingt kitschig nennen, aber es rührt sehr stark in Richtung Sentimentalität, wie das ganze Werk übrigens meiner Ansicht nach. Beispielsweise auch der zweite Satz in seiner, wenn man Brahms kennt, fast etwas aufgesetzt wirkenden Super-Dramatik: "Alles Fleisch, es ist wie Gras."

Das ist schon für mich manchmal ein bisschen befremdlich.
Christian Gerhaher

Ich habe das Brahms-Requiem schon sehr oft gesungen. Das ist vielleicht auch besonders mein Metier als Bariton. Es ist ja kein sehr langes Stück, aber vielleicht auch dadurch eines der anspruchsvollsten Werke, die ich kenne, und zwar in dem, was man als Sänger leisten muss. Und ich muss sagen, so etwas wie unter Andris Nelsons hier in Salzburg habe ich noch nie gehört. So ehrlich und so ein Klang, der sich aus einer nicht dramatischen Attitüde entwickeln lässt. Das finde ich unglaublich beeindruckend. Und dann noch im Zusammenhang mit dem Chor des BR! Ich kenne den Chor ewig, aber so habe ich ihn noch nie gehört. Und ich habe auch noch nie annähernd ein Brahms-Requiem gehört wie vom Chor des Bayerischen Rundfunks.

Bernhard Neuhoff: Was gefällt Dir so gut daran?

Christian Gerhaher: Die Exaktheit und die dynamische Bandbreite, die sich nicht auf stimmliche und klangliche Qualitäten auswirkt und die Homogenität der einzelnen Stimmgruppen.

Bernhard Neuhoff: Andris Nelsons ist ein Gefühlsmensch, oder?

Christian Gerhaher: Ja! Und das für mich in der sympathischsten und inspirierendsten Weise.

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