Bruce Liu, der Gewinner des Chopin-Wettbewerbs 2021, spricht über seine Liebe zu Tschaikowskys "Jahreszeiten", Gokartfahren und den Einfluss der Natur auf sein Wohlbefinden. Ein Interview voller unerwarteter Einblicke.
Bildquelle: Bartek Barczyk
BR-KLASSIK: Bruce Liu, wenn jemand den Chopin-Wettbewerb gewonnen hat, heißt es oft, diese Person sei nun ein Chopin-Experte. Was denken Sie? Kann man aus der Perspektive eines Musikers überhaupt zum Experten werden?
Bruce Liu: Ich bin definitiv ein Experte (lacht). Nein, solche Bezeichnungen kommen meist von anderen. Selbst beim Wettbewerb habe ich stets an Werken verschiedener Komponisten gearbeitet und mich nie nur auf einen konzentriert. Natürlich ist es toll, diesen Titel zu gewinnen, weil es mich motiviert, Chopin noch intensiver zu erforschen. Aber ich beschränke mich nicht darauf. Chopin ist für Pianisten zwar zentral, aber nicht alles. Schon als Schüler musste ich mich durch seine "Albtraum"-Etüden kämpfen und viel Zeit mit Nocturnes verbringen – immer wieder auch bei Prüfungen. Chopin ist also für uns alle unvermeidlich. Seine Kompositionen passen wunderbar zum Klavier und bieten uns viel Raum zur Entfaltung.
BR-KLASSIK: Gibt es etwas, das Sie seit dem Gewinn des Wettbewerbs vermissen?
Bruce Liu: Wahrscheinlich die freie Zeit oder meine festen Abläufe. Aber man will ja oft genau das, was man nicht hat. Vor dem Wettbewerb war es mein Traum, als Musiker die Welt zu bereisen und in Traumkonzertsälen mit wunderbaren Orchestern zu spielen. Jetzt habe ich das, und doch suche ich immer wieder nach etwas Neuem, das ich noch entdecken kann.
BR-KLASSIK: Auf Ihrem neuen Album befinden sich die "Jahreszeiten" von Peter Tschaikowsky, zwölf Klavierstücke. Wie charakterisiert Tschaikowsky den November, den wir ja gerade haben?
Bruce Liu: Der November fühlt sich für uns ja schon fast weihnachtlich an. Dieses Jahr ist es in Kanada jedoch noch ungewöhnlich mild, und Schnee ist bislang ausgeblieben. Die Atmosphäre des heutigen Novembers ist wohl eine ganz andere als zu Tschaikowskys Zeiten. Musik spiegelt ja oft die gesellschaftlichen Strömungen und den Lebensstil ihrer Epoche wider. Vermutlich ist unser November heute tatsächlich ein wenig wärmer.
BR-KLASSIK: Müsste man die "Jahreszeiten" also nach der Klimaerwärmung neu komponieren?
Gewann 2021 den Chopin Wettbewerb in Warschau | Bildquelle: Bartek Barczyk Bruce Liu: Das ist der Reiz eines Kunstwerks, besonders in der klassischen Musik. Diese Meisterwerke werden immer wieder neu gespielt und haben sich über die letzten 200 Jahre ständig weiterentwickelt. Wenn ein Komponist etwas schreibt, bleibt es auf dem Papier, es ist noch nicht lebendig. Es braucht einen Interpreten, der es zum Leben erweckt. Diese Kunst passt sich also auch an die jeweilige Zeit an. Natürlich bewahren wir die ursprünglichen Ideen so gut wie möglich, aber ich bin sicher, wenn Tschaikowsky heute komponieren würde, würde das Werk ganz anders klingen.
Tschaikowsky: "Die Jahreszeiten"
Label: Deutsche Grammophon
Erschienen am 1. November 2024
BR-KLASSIK: Eine sehr reale Frage: Machen Sie sich Sorgen wegen des Klimawandels?
Bruce Liu: Ja, irgendwie schon. Ich glaube, jeder sorgt sich in gewisser Weise. Letzten Monat war ich in Japan auf Tour, und es war verrückt: 28 Grad. Es fühlte sich fast wie Sommer an, obwohl es eigentlich um die zehn Grad hätte haben sollen. Aber wenn der Sommer zum Winter wird, hat das vielleicht auch Vorteile ...
BR-KLASSIK: Das wäre eine richtige Wende. Schwimmen ist eines Ihrer Hobbys. Was bedeutet es Ihnen, sich im Wasser zu bewegen?
Bruce Liu: Es schafft Raum, um den Kopf frei zu bekommen. Als Kind litt ich an Asthma, und der Arzt empfahl mir Schwimmen als beste Übung für die Lungen. Dadurch habe ich nicht nur eine gute Gewohnheit entwickelt, sondern auch einen ruhigen Moment in der Stille des Wassers gefunden, weit weg von Technologie und dem Handy.
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BRUCE (XIAOYU) LIU – final round (18th Chopin Competition, Warsaw)
BR-KLASSIK: Vielleicht im Gegensatz zum Klavier, das zwar keinen Lärm macht, aber die Ohren ständig stimuliert.
Bruce Liu: So habe ich das noch nie gesehen, aber vielleicht stimmt das. In der Natur zu sein, ist immer wohltuend, und Wasser ist ein Teil davon. Unser Leben in der Stadt ist allgemein recht weit von der Natur entfernt. Wann immer ich die Möglichkeit habe, auf eine "ursprünglichere" Weise zu leben, nutze ich sie gerne.
BR-KLASSIK: Noch eine Frage dazu, weil Sie gerade die Natur erwähnen. Ein anderes Hobby von Ihnen ist Gokartfahren – das ist ein ziemlicher Kontrast. Lieben Sie das Risiko und die Geschwindigkeit?
Bruce Liu: In gewisser Weise, ja. Ich sehe es aber auch als Herausforderung, sich selbst immer besser kennenzulernen. Gokartfahren erinnert mich an die Vorbereitung auf den Wettbewerb: auf jedes Detail achten, denn jede kleine Veränderung kann Hundertstel Sekunden verbessern. Manchmal muss man alte Muster loslassen und nach einer Pause zurückkommen, um Fortschritte zu machen. Das ist im Klavierspielen ganz ähnlich: Viele sprechen nur vom Üben, aber nicht davon, wie man richtig übt. Wenn man auf die falsche Weise übt, bewegt man sich eher in die falsche Richtung. Es ist also wichtiger, Fehler zu korrigieren, als einfach nur weiterzumachen.
BR-KLASSIK: Hatten Sie beim Üben der "Jahreszeiten" eine Lieblingszeit oder -saison, die vielleicht von Ihrer liebsten Jahreszeit im echten Leben abweicht?
Bruce Liu: Ich habe eine enge Verbindung zum Juni, und das hängt mit einer persönlichen Geschichte zusammen. Als ich jung war, sah ich eine Serie, in der es einen "Bad Boy" gab, den niemand wirklich mochte. Einmal war er mit Freunden in einem Café, inklusive dem Mädchen, das er mochte. Im Radio lief die Juni-Barcarole, und er begann, von der Natur und der romantischen Stimmung zu sprechen – ganz anders, als ihn die Leute kannten. Natürlich verliebte sich das Mädchen daraufhin in ihn. Das war wohl mein erster Berührungspunkt mit den "Jahreszeiten". Meine persönliche Lieblingssaison ist aber wahrscheinlich der Herbst – nicht zu heiß und nicht zu kalt, und die Natur sieht wunderschön aus.
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Bruce Liu - Tchaikovsky: The Seasons, Op. 37a: VI. June. Barcarolle (Official Music Video)
BR-KLASSIK: Eine letzte Frage: Bei welchem Komponisten aus der Vergangenheit würden Sie gern Klavierunterricht nehmen?
Bruce Liu: Wahrscheinlich Liszt – das ist keine schwere Entscheidung. Er war wahrscheinlich der beste Pianist und auch ein großartiger Komponist, Transkribierer und Genießer des Lebens. Er war unglaublich vielseitig; ich wüsste nicht, was er nicht konnte. Es wäre wohl nicht nur eine Klavierstunde, sondern auch ein großer Spaß. Ich würde mich wohl fast noch mehr auf die Partys nach den Klavierstunden mit ihm freuen.
Sendung: "Leporello" am 6. November 2024 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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