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Kritik - "Der fliegende Holländer" in Nürnberg Wagner kolonial

Diesmal macht der verfluchte Seemann auf einer lateinamerikanischen Zuckerrohr-Plantage des 19. Jahrhunderts Station. Regisseurin Anika Rutkofsky arbeitet die Schrecken des Kolonialismus und der Sklaverei auf – und orientiert sich dabei an der Arbeit surrealistischer Künstlerinnen wie Frida Kahlo. Das überzeugt szenisch wie musikalisch.

Der fliegende Holländer in Nürnberg | Bildquelle: Pedro Malinowski/ Staatstheater Nürnberg

Bildquelle: Pedro Malinowski/ Staatstheater Nürnberg

Gar nicht so einfach, die Gespenster der Vergangenheit zu verscheuchen: Sie warten nicht auf eine Einladung, sie kommen unangemeldet, und zwar immer wieder. Auch auf die Zuckerrohr-Plantage irgendwo in der Karibik. Die Geschäfte scheinen gut zu laufen: Die Villa ist prächtig, die Reifröcke auch, die Verlobungstorte vierstöckig und der Rum allgegenwärtig. Aber ein merkwürdiger Gast hat sich offenbar in der Zeit geirrt: Er sieht in seinem prächtigen Renaissance-Outfit aus wie einer der Seehelden und Konquistadoren des 16. Jahrhunderts, wie Vasco da Gama oder Amerigo Vespucci, dabei ist er in der Inszenierung des "Fliegenden Holländers" von Anika Rutkofsky doch im 19. Jahrhundert vor Anker gegangen, also in der Ära der Zuckerbarone, vor der Abschaffung der Sklaverei.

Wagner unterm Zuckerhut

Sehr einleuchtend, dieses Regie-Konzept, schließlich geht es, wie bei Richard Wagner eigentlich immer, um einen Fluch. Der "Holländer" wird ihn nicht los, muss auf ewig über die Weltmeere stürmen, weil er Gott verneint hat. Aber das gilt auch für die Kolonialherren aller Zeiten, die für ihre Geschäfte vor keiner Grausamkeit zurückschreckten. Ihren Fluch macht Anika Rutkofsky optisch eindrucksvoll zum Thema, indem sie die eigentlich ironisch gemeinte Gespenster-Geschichte von Heinrich Heine, von der sich Wagner inspirieren ließ, auf eine Plantage in Lateinamerika verlegte, sozusagen unter den Zuckerhut. Der Süßstoff wird im Bühnenbild von Julius Theodor Semmelmann immer wieder groß in Szene gesetzt. Es ist blutiger Zucker, was sonst. Kostüm-Designer Adrian Bärwinkel lässt die Mitwirkenden so prachtvoll auftreten, als wären sie buchstäblich "Vom Winde verweht".

Kein Wunder, dass sich Senta für diese Ausbeuter-Gesellschaft nicht opfern will: Sie ist hier Malerin, soll laut Regieteam an die berühmte mexikanische Surrealistin und Feministin Frida Kahlo erinnern. Eine Frau, die angewidert ist von den Lebenslügen des Plantagen-Kapitalismus. Ständig, ja manisch, schafft sie neue Werke, die die kolonialistische Vergangenheit, also den Fluch, zum Thema haben. Am Ende greift sie zum ganz dicken Pinsel und schwärzt ihr letztes Bild. Für diese sehr zeitgemäße, packende und beklemmende Deutung gab es vom Publikum zurecht viel Applaus.

Flott und forsch

Zumal auch die musikalische Seite sehr überzeugte. Jochen Kupfer war ein Prachtkerl von einem "Holländer", mit tiefschwarzem Bart und ebensolcher Stimme, die nach unten keine Grenze kannte. Herrlich, ihm bei seiner stimmlichen Reise in die "Unterwelt" zuzuhören. Hans Kittelmann als Steuermann beeindruckte mit seiner schneidend klaren und durchschlagskräftigen Tenorstimme. Sopranistin Anna Gabler als Senta war schauspielerisch außerordentlich fesselnd, hatte aber hier und da Probleme, ihre emotionalen Ausbrüche stimmlich unter Kontrolle zu halten. Da waren die Gefühle bisweilen zu überbordend, vielleicht auch die Nervosität.

Generalmusikdirektor Roland Böer war erfreulich flott und forsch bei der Sache, schließlich ist der "Holländer" ein Frühwerk von Wagner, wo jugendlicher Überschwang noch angebracht ist, auch mal ein paar wild bewegte, riskante Momente. Allerdings zerfiel Böer die Ouvertüre in ihre Einzelteile, da wäre etwas mehr Tempo und weniger Akribie nötig gewesen.

Interessant, dass Wagner seinen "Holländer" panische Angst haben lässt vor dem großen Nichts, in das er am Ende aller Zeiten geworfen werden soll, während sich Tristan und Isolde genau nach diesem Nichts, nach der totalen kosmischen Auflösung im buddhistischen Sinne sehnen. Dazwischen passt Wagners ganzes Schaffen und Denken. Immer wieder ein Erlebnis, und am Staatstheater Nürnberg zumal.

Sendung: "Allegro" am 19. Mai ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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