Die blinde Pianistin Maria Theresia Paradis verblüffte ihre Zeitgenossen mit ihrem virtuosen Klavierspiel. Ihr widmet Ragna Schirmer ihr neues Album und verrät: Paradis war sogar Wegbereiterin für die heutige Blindenschrift.
Bildquelle: Maike Helbig
BR-KLASSIK: Ragna Schirmer, Maria Theresia Paradis wird oft zwischen Haydn und Mozart eingeordnet – auch auf Ihrem neuen Album. Was war denn die eigene Hand- und Klangsprache dieser Komponistin?
Ragna Schirmer: Die beiden Fantasien für Klavier solo, die von ihr erhalten sind, sprechen für mich eine sehr facettenreiche Sprache. Die sind beide mehrteilig und enthalten schnelle, virtuose Passagen. Da fragt man sich natürlich: Das muss sie ja auch erstmal gespielt haben können. Und dann gibt es aber auch nachdenkliche, intime Stellen, wo sie ganz stille Seiten von sich offenbart. Das ist natürlich ganz besonders berührend, wenn man versucht, sich in diese Figur hineinzuversetzen. Die CD bildet zwei ihrer Originalkompositionen ab: Eine Ouvertüre für Orchester, die strahlt eine solche Freude im wahrsten Sinne des Wortes aus, dass man kaum ruhig auf dem Stuhl sitzen bleiben kann. Und dann habe ich die Solo-Fantasie von ihr auf einem historischen Flügel gespielt, der sogar über ein Orgelregister verfügt.
BR-KLASSIK: Was bedeutet das genau? Können Sie das kurz erläutern?
Ragna Schirmer: Ich habe da sieben Pedale, zwei davon sind für das Orgelregister. Das eine Pedal bedient den Blasebalg, mit dem ich permanent Luft zuführen muss, und das andere schaltet die Orgel zu. Die Pfeifen befinden sich unter dem Flügel, sodass ich mit den einzelnen Tasten die Orgelpfeifen auslösen kann. Ich kann mich sozusagen entscheiden, ob ich Klavier und Orgel gleichzeitig spiele – als zusätzliche Farbe – oder ob ich nur Orgel spiele.
BR-KLASSIK: Und kommt das in dem Stück auch zum Einsatz? Weil es ja nicht explizit für dieses Instrument geschrieben wurde, oder?
Ragna Schirmer: Nein, das nicht, aber ich habe in dem Stück schon beides versucht. Und dann gibt es noch zwei verschiedene Abdämpfungspedale und einen Moderator. Da sind die Farben dann besonders leise. Dann gibt es noch einen Fagottzug. Da legt sich so ein Pergament auf die Saiten, sodass es schnarrend klingt. Außerdem gibt es noch einen Janitscharenzug, da schellen dann wirklich Glocken im Flügel und eine Trommel. Also, das ist ein ganz seltenes Instrument mit vielen verschiedenen Effekten. Damit konnte ich diese Fantasie dann auch besonders plastisch darstellen. Vor allem das Orgelregister ist natürlich superspannend. Das wiederum haben wir ausgewählt, weil Paradis eben selber Orgel spielen konnte und sich diese Fantasie auf ein Orgelstück von Abbé Vogler bezieht.
Claviorganum aus dem Jahr 1712 | Bildquelle: picture alliance / Heritage Art/Heritage Images | Herman Willenbrock
Man hat damals mit diesen verschiedenen Instrumenten auch experimentiert. Das sogenannte Claviorganum, also die Verbindung aus Klavier und Orgel, ist aus der Zeit kaum noch spielbar erhalten. Aber es war ein großes Thema, überhaupt Effekte. Das passt dann wiederum auch dazu, sich vorzustellen, wie sich jemand, der nicht alle Fähigkeiten besaß wie andere Menschen, mit Mitteln auseinandersetzte, über die man eben besonders viel erreichen kann. Auch der menschliche Körper macht dann Kompensationsarbeit. Bei blinden Menschen funktioniert ja das Gedächtnis plötzlich ganz hervorragend. Die müssen sich viel, viel mehr Details merken als wir, die wir das mit dem Auge abgleichen können. Zum Beispiel was Proportionen im Raum angeht, in dem man mal gewesen ist. So konnte Frau Paradis etwas, das sie einmal gehört hat, auswendig reproduzieren – ohne dass man es ihr noch einmal vorstellen und vorspielen musste. So schreibt es zumindest die Biografin. Und das war natürlich eine Sensation. Denn damals spielte man nicht auswendig. Aber klar, eine blinde Musikerin konnte alles auswendig.
BR-KLASSIK: Wie konnte Maria Theresia Paradis denn – abgesehen vom hörend Lernen – selber Noten lesen?
Ragna Schirmer: Sie hat auch blinde Mädchen in Musik unterrichtet. Das war ihr ganz wichtig. Sie hat sich also auch als Pädagogin, als Vermittlerin verstanden. Und da wurde dann eben viel experimentiert, wie man Noten für blinde Menschen aufzeichnen kann. Es gibt in Wien einen Setzkasten, der von Paradis' Lebensgefährten entwickelt wurde. Den habe ich mir auch angeschaut. Da hat man Löcher zum Stecken von verschiedenen kleinen Miniklötzchen, die aber unterschiedliche Zacken haben. Das muss dann irgendwie gezeigt haben: Das ist jetzt eine Achtelnote oder eine Viertelnote – je nach Oberfläche. Das konnte man dann mit den Fingern ertasten. Und dann gab es auch Quasi-Notenlinien für die Tonhöhe.
Die Brailleschrift geht auf die Tastversuche von Maria Theresia Paradis zurück.
Maria Theresia von Paradis | Bildquelle: picture-alliance / akg-images
Das ist natürlich alles hochkompliziert, weil es so riesig ist. Da waren drei Takte einer Mozart-Sonate ungefähr so groß wie ein kleiner Schreibtisch. Die Idee, wie wir Schrift haptisch erfahrbar machen, steckte da noch in den Kinderschuhen. Aber diese Idee wurde dann wiederum aufgegriffen von dem Ungarn Valentin Hauy, dem Lehrer von Louis Braille. Und Braille hat dann 1825 die Blindenschrift entwickelt, wie wir sie heute noch kennen. Er war damals 16 Jahre alt. Aber diese Schrift geht eben – nicht unmittelbar, aber mittelbar – auf diese Tastversuche von Maria Theresia Paradis zurück. Ich bin jetzt auch mit Blindenverbänden im Gespräch und versuche, über die CD die Erinnerung an diese Frau lebendig zu halten.
BR-KLASSIK: Sie sind ja eine profunde Kennerin der verschiedenen Herangehensweisen, wenn ich da an Händel auf der Hammond-Orgel erinnere. Wäre es auch für zukünftige Paradis-Projekte denkbar, diese Musik auch so ein bisschen zu verjazzen?
Ragna Schirmer: Ich bin mir nicht sicher, ob sie das hergibt. Was ich im Moment aber anbiete, sind Konzerte im Dunkeln. Das geschieht mit großem Erfolg. Die Idee, das Sehen auszuschalten, und zwar auch das Sehen des Interpreten, damit wir einfach nur ins Hören kommen und in die Resonanz mit dem Publikum, das ist hochspannend. Ich habe es jetzt bei einigen Konzerten schon so gemacht, dass ich zumindest teilweise das Licht ausschalten lasse. Beim Mozartfest Würzburg spiele ich ein Konzert im Keller, also komplett im Dunkeln. Da geht es dann darum, dass die Werke von Maria Theresia Paradis einfach mal ohne Sehen erklingen. Das Publikum lässt sich dann mit mir gemeinsam auf dieses Nur-Hören, Nur-Spüren, Nur-Resonanzempfinden ein.
Das Publikum soll sich mit mir gemeinsam auf dieses Nur-Hören, Nur-Spüren, Nur-Resonanzempfinden einlassen.
BR-KLASSIK: Das bedeutet für Sie als sehende Pianistin aber auch nochmal Extra-Übeeinheiten, oder?
Ragna Schirmer: Es gibt ja Gott sei Dank heute die Möglichkeit, dass ich über das iPad wenigstens die Noten lesen kann. Denn ich kann nicht alles auswendig, was ich in diesen Paradis-Konzerten spiele. Das stelle ich dann aber ganz, ganz schwach ein – genau so, dass es nicht stört. Die Tasten muss ich aber in der Tat dann im Dunkeln bewegen. Darin bin ich aber geschult, weil ich jahrelang in Halle Puppentheaterstücke gespielt habe – auch bei völliger Dunkelheit. Zum Beispiel das "Konzert für eine taube Seele", das sich um die Biografie von Maurice Ravel rankt, fand für mich zum großen Teil in völliger Dunkelheit statt. Da habe ich mir angewöhnt, genau zu fühlen, wo ich auf den Tasten hin muss. Und ich habe glücklicherweise die Erfahrung, das auch in einer Situation vor Publikum abrufen zu können.
"Maria Theresia Paradis"
Mit Werken von:
Maria Theresia von Paradis (1759-1824)
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Joseph Haydn (1732-1809)
Mitwirkende:
Ragna Schirmer (Klavier)
Hofkapelle München
Leitung: Rüdiger Lotter
Label: Berlin Classics
Veröffentlichungsdatum: 16. Mai 2025
Sendung: "Allegro" am 14. Mai 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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