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Gesprächsband "Ich denke in Tönen" Erinnerungen von und an Nadia Boulanger

Komponistin, Dirigentin, Lehrerin: Nadia Boulanger war eine der wichtigsten Musikerinnen des 20. Jahrhunderts. Bruno Monsaingeon hat nun seine Erinnerungen an Gespräche mit ihr niedergeschrieben. Der Band "Ich denke in Tönen" gibt Einblicke in das Leben und Denken von Nadia Boulanger. Und zeigt auch, wie sehr sie Gefangene war. Eine Gefangene ihrer Mutter, aber auch der Konventionen ihrer Zeit.

Nadia Boulanger 1962, im Alter von 73 Jahren | Bildquelle: picture alliance / AP Images | Murray Becker

Bildquelle: picture alliance / AP Images | Murray Becker

Unbenommen, Nadia Boulanger war eine bedeutende Lehrerin, hat Generationen von Schülerinnen und Schülern auf ihrem Weg in großartige Karrieren begleitet: Aaron Copland, Grażyna Bacewicz, Elliott Carter, sogar Quincy Jones, der später als Produzent von Michael Jackson berühmt wurde. In ihrer Pariser Wohnung gehen sie damals alle ein und aus.

Bis zuletzt die Mama im Nacken

Noch mit 90 und fast blind unterrichtet sie in ebendieser Wohnung, in der sie als Kind schon mit ihrer Mutter gelebt hat, einer Das-kannst-du-besser-Mutter, ständig am Ziehen und Schieben – und wie’s scheint, hat Nadia Boulanger sich bis zum Ende nicht wirklich von ihr ablösen können. "Ich habe immer noch den Eindruck, dass ich meine Besucher im Haushalt von Mama empfange", erinnert sich Bruno Monsaingeon an die Worte der damals schon uralten Musikerin.

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Im "Haushalt von Mama" legt Nadia Boulanger eine ähnliche Strenge und Unerbittlichkeit an den Tag legt wie einst ihre Mutter. Nun halt ihren Schülerinnen und Schülern gegenüber. Hier lebt sie ihre oft erbarmungslose Hingabe an die Musik, konsequent bis zur letzten Minute des Tages. Gegenüber Monsaingeon spricht sie von einer "Krankheit".

Ich bin unersättlich. Ich liebe es, zu hören.
Nadja Boulanger

Das Bild, das Bruno Monsaingeon in seinem Gesprächsband "Ich denke in Tönen" von Nadia Boulanger zeichnet (oder sie selbst zeichnen lässt) ist weicher als vieles, was man sonst über die Kompositionslehrerin zu lesen bekommt. Ihre Härte und ihr Weltbild lassen sich trotzdem entziffern. Etwa anhand von Zahlen: 23 Mal das Wort Genie in diesem schmalen Buch, ein Mal das Wort Frauen, null Mal Komponistinnen. Im Jahr 2023 wirkt dieses Buch, wirken diese Gespräche seltsam anachronistisch.

Aus der Musikhasserin wird eine Liebende

Anekdotisch verdichtet lässt Monsaingeon sie davon erzählen, wie verhasst ihr die Musik früher war, und wie sich dieser Hass schließlich ins Gegenteil verkehrte: "Ich bin aufgewachsen als Kind, das keine Musik ertragen konnte. Sie tat mir geradezu weh, ich schrie. Das ganze Viertel geriet in Aufruhr. Man hörte mein Schluchzen auf der Straße. Das Klavier war ein Ungeheuer, das mich verfolgte. Und dann, eines Tages, entdeckte ich es – mit einem Male und mit aller Leidenschaft. Ich hatte die Feuerwehr auf der Straße vorbeifahren hören und setzte mich ans Klavier, um diese Töne wiederzufinden."

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Dann wird noch allerhand zitiert, Shakespeares Hamlet, Briefe von Proust. Am Ende von "Ich denke in Tönen" erinnern sich ein paar Weggefährten: Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin, Murray Perahia. Alles Männer. Und Boulanger erinnert sich daran, wie ihr einmal eine alte lächelnde Frau auf Italienisch einen guten Tag gewünscht hat, eine Begegnung, die ihr bis heute den Gedanken eingibt: "Vergiss nicht, dass deine Tage gesegnet sind, du kannst sie nutzen oder nicht, aber sie sind gesegnet."

Nadia Boulanger: Frau in Widersprüchen

Buchcover: "Ich denke in Tönen" – Gespräche mit Nadia Boulanger / Bruno Monsaingeon | Bildquelle: Berenberg-Verlag Buchcover | Bildquelle: Berenberg-Verlag Das ist alles etwas pathetisch und fast filmisch zugespitzt. Und wirft an einigen Stellen Fragen auf: Eine Kompositionslehrerin, die ihre eigenen Stücke für komplett unnütz hält, die das Komponieren schließlich aufgibt, weil sie, wie sie sagt, "wusste, dass ich nie ein Genie sein würde. Man hätte meine Musik vielleicht gespielt, aber Musik, die man spielt, weil sie von einer guten Freundin ist – das interessiert mich nicht."

Eine Komponistin, die sich auf den Geniegedanken zurückzieht und Leuten das Komponieren beibringt, aber sagt, sie könne ein Meisterwerk nicht erkennen. Andere erkennen in ihr durchaus, und das zurecht, eine der wichtigsten Personen der Musikgeschichte. Dieses Buch gibt einen Einblick in ihr Denken und Leben. Und wer sich gern in alten Zeiten verliert, findet hier sicher Vergnügen dran.

Info

Das Interviewbuch "Ich denke in Tönen" von Bruno Monsaingeon ist beim Berenberg-Verlag erschienen und kostet 28 Euro.

Sendung: "Allegro" am 27. Februar 2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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