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West-Eastern Divan Orchestra "Wir müssen Verständnis und Empathie aufbauen"

Musik kann Brücken bauen – so das Credo des West-Eastern Divan Orchestra. Vor 25 Jahren hat Daniel Barenboim es zusammen mit Edward Said gegründet. Dort musizieren vor allem israelische, palästinensische und arabische Musikerinnen und Musiker miteinander. Jetzt spielt das Orchester erstmals in der Münchner Isarphilharmonie. Ein Grund nachzufragen: Wie geht es den Musikerinnen und Musikern angesichts der aktuellen politischen Spannungen in ihrer Heimat? BR-KLASSIK hat mit zwei Orchestermitgliedern gesprochen, der Bratschistin Tal Theodorou und dem Geiger Hisham Khoury.

Konzert West-Eastern Divan Orchestra mit Dirigent Daniel Barenboim in der Waldbuehne in Berlin 2018 | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

BR-KLASSIK: Tal Theodorou und Hisham Khoury, Musik kann Brücken bauen und Barrieren einreißen, die vorher als unüberwindlich angesehen wurden. Das ist das Anliegen des West-Eastern Divan Orchestra. Als Musikerin und Musiker erleben Sie das täglich. Wie gehen Sie ganz persönlich damit um, dass gerade sämtliche Brücken eingerissen und Barrieren aufgebaut werden?

Hisham Khoury: Ich würde sagen, dass dieses Orchester ein Medium ist, das uns und anderen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft die notwendigen Bedingungen bietet, zusammenkommen und zusammen Musik zu machen – unter dem Banner gegenseitiger Anerkennung; was ihre Identität als Künstler und als Mensch angeht. Es ist ein einzigartiges Umfeld, das es den Musikern ermöglicht, gemeinsame musikalische Erfahrungen zu machen und Freundschaften und Verständnis füreinander zu entwickeln, die über ihre Unterschiede hinausgehen.

Tal Theodorou: Ja, ich sehe es auch so wie Hisham. Wenn wir über die politische Szene sprechen, dann werden die Barrieren immer höher. Und in unserer Gesellschaft, wo wir herkommen, werden sie wahrscheinlich durch die Medien hochgezogen. Aber es gibt viele Gruppen, die zusammenarbeiten, um Freundschaften zu schließen und gemeinsame Bereiche zu schaffen, in denen wir zusammenarbeiten und Verständnis und Empathie aufbauen können. Das West-Eastern Divan Orchestra ist einzigartig, weil es die einzige kulturelle Organisation ist, die ich kenne, die das tut – und zwar auf diesem Niveau. Und wir haben andere Organisationen, von denen wir wissen, dass sie zusammenarbeiten, um diese Barrieren zu vermeiden oder sie abzubauen.

Stimmungswandel im Orchester

BR-KLASSIK: Merken Sie, dass die Stimmung im Orchester anders geworden ist – vor allem seit dem 7. Oktober 2023?

Hisham Khoury: Ich würde sagen, die Dynamik im Orchester hat sich definitiv verändert. Das spüren wir. Die Atmosphäre war ein bisschen schwerer und komplexer. Wir konnten spüren, dass es Spannungen gab, an die wir nicht gewöhnt waren – und das, obwohl wir ein Orchester sind, das es geschafft hat, sich seinen Weg durch die herausfordernde politische Dynamik zu bahnen, würde ich sagen. Es ist nicht einfach, weil jeder von uns aus einem anderen Umfeld kommt. Wir sehen die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven. Das bedeutet aber nicht, dass wir zum Stillstand gekommen sind. Wir arbeiten daran, neue Wege zu finden, um miteinander in Kontakt zu treten und die aktuellen Schwierigkeiten zu verstehen, die wir durchmachen.

Wir leiden alle unter dieser Katastrophe.
Tal Theodorou, Bratschistin im West-Eastern Divan Orchestra

Tal Theodorou: Genau, wir konzentrieren uns wirklich darauf, wie wir Verbindungen aufbauen können und lernen, Empathie füreinander zu entwickeln. Wir wissen, dass wir beide unter dieser Katastrophe leiden. Das Leiden der einen ist nicht größer als das der anderen. Deswegen ist es natürlich schwieriger geworden, weil das Leiden an dem Trauma dann eben noch größer ist. Aber ich denke, wir haben auch vorher Freundschaften geknüpft, die uns jetzt helfen können, uns wieder in die Lage zu versetzen, uns in den anderen einzufühlen und uns wirklich aufzubauen. Aber wie schon Hisham sagte: Es ist auch für uns Musiker keine einfache Zeit.

Daniel Barenboim – Engagement trotz Krankheit

BR-KLASSIK: Wie erleben Sie Daniel Barenboim gerade? Wie geht es ihm?

Daniel Barenboim | Bildquelle: picture-alliance/dpa Daniel Barenboim leitet das West-Eastern Divan Orchestra. Seit längerem macht ihm allerdings seine Gesundheit zu schaffen. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Hisham Khoury: Wir sind sehr dankbar, dass Herr Barenboim bei uns ist – trotz seiner gesundheitlichen Probleme. Er ist immer noch sehr engagiert in diesem Orchester und diesem Projekt. Sein Engagement gibt uns eine Menge Energie. Wir schätzen ihn wirklich und sind auch entschlossen, ihn in jeder Weise zu unterstützen, indem wir zusammenkommen und Musik auf höchstem Niveau spielen – und natürlich seine Vision wertschätzen.

Tal Theodorou: Ich habe dem nichts hinzuzufügen.

Musik schafft Verbundenheit

BR-KLASSIK: Sie sind als Orchester berühmt geworden für Ihre herausragende musikalische Qualität, aber eben auch dafür, dass Sie völkerverbindend arbeiten. Wie schaffen Sie es, sich gerade auf die Musik zu konzentrieren?

Tal Theodorou: Ich denke, in erster Linie sind wir Musiker, professionelle Musiker. Musik ist für uns einfach der beste Kanal, um unsere Gefühle und unseren Gemütszustand auszudrücken. So gesehen hilft uns die Musik, zusammenzukommen und gemeinsam etwas zu schaffen. Ich glaube, durch das Musizieren fühlen wir uns noch stärker miteinander verbunden. Es ist eine große verbindende Kraft.

Hisham Khoury: Dem stimme ich zu. In erster Linie sind wir Musiker. Alles andere ist zweitrangig.

BR-KLASSIK: Wird die Musik vielleicht eher noch wichtiger in schwierigen Zeiten?

Tal Theodorou: Ich denke, sie schafft etwas großes Gemeinsames für uns. Sie ermöglicht es uns, auf die Schwierigkeiten oder die Komplexität dieses Orchesters einzugehen, den menschlichen Teil. Es gibt uns eine große Basis, um uns miteinander zu verbinden. Wir schaffen gemeinsam eine Atmosphäre, während wir gemeinsam Musik machen. Es ist ein großartiges Werkzeug. Wir sind so froh, dass wir die Musik haben.

Brahms und Mendelssohn in München

BR-KLASSIK: Sie spielen jetzt in München die Vierte Symphonie von Johannes Brahms und die "Italienische Symphonie" von Felix Mendelssohn Bartholdy. Wofür stehen diese Musiken für Sie?

Hisham Khoury: Für mich persönlich ist die Vierte Symphonie von Brahms eine Symphonie, mit der ich wirklich mitschwinge. Es ist meine Lieblingssymphonie von seinen vieren. Und in gewisser Weise repräsentiert sie eine gewisse Dunkelheit und Komplexität, die genau die Situation widerspiegelt, in der wir uns gerade befinden. Also denke ich, in gewisser Weise habe ich das Gefühl, dass ich das auf die aktuelle Situation beziehen kann. Dahingegen ist die Italienische eine Symphonie, die uns – wenn man ein bisschen philosophisch sein will – ein bisschen Hoffnung gibt, dass auch wieder bessere Zeiten kommen werden.

Isarphilharmonie im Gasteig HP8 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Am 31. Oktober 2024 spielt das West-Eastern Divan Orchestra erstmals in der Münchner Isarphilharmonie/Gasteig HP8. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Tal Theodorou: Ja, das empfinde ich auch so. Ich liebe diese Brahms-Symphonie. Es ist jetzt, glaube ich, das zweite Mal, dass wir sie im Orchester spielen. Das letzte Mal war 2008. Es ist total schön, wieder zu dieser Symphonie zurückzukehren, mit diesem Orchester und diesem Dirigenten. Und dass wir auch in München spielen werden! Mendelssohn habe ich noch nie mit diesem Orchester gespielt. Ich glaube, wir haben überhaupt noch nie Mendelssohn aufgeführt. So gesehen wird es sehr aufregend, etwas Neues mit diesem Orchester zu machen. Natürlich habe ich Mendelssohn schon mit anderen Orchestern aufgeführt. Aber ich glaube, dass gerade unser Klang etwas Besonderes hat, dass er vieles lebendiger und hoffnungsvoller erscheinen lassen kann.

Humanismus – alles nur Utopie?

BR-KLASSIK: "Humanismus ist die letzte und vielleicht einzige Möglichkeit, um uns gegen Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit zu wehren, die die Geschichte durchziehen. Um die Probleme zu lösen, die Völker trennen, müssen diese Völker zusammengebracht werden." Mit diesen Worten wird Edward Said zitiert, der zusammen mit Daniel Barenboim das West-Eastern Divan Orchestra gegründet hat. Tal und Hisham, was glauben Sie? Hat der Humanismus noch eine Chance?

Die Menschlichkeit wird von politischem Kalkül und Angst überschattet.
Hisham Khoury, Geiger im West-Eastern Divan Orchestra

Edward Said and Daniel Barenboim | Bildquelle: Fundación Barenboim-Said Edward Said und Daniel Barenboim gründeten 1999 das West-Eastern Divan Orchestra - mit israelischen, palästinensischen und arabischen Musikern. | Bildquelle: Fundación Barenboim-Said Hisham Khoury: Die Worte von Edward Said haben mich persönlich sehr berührt. Auch wenn ich denke, dass es heutzutage sehr schwierig ist, an diesem Glauben festzuhalten. Die Welt scheint dieses Konzept aus den Augen verloren zu haben, vor allem, wenn man sieht, was tagtäglich im Gazastreifen passiert. Das schiere Ausmaß an Leid und Zerstörung macht deutlich, dass ein Teil der Welt die Augen verschließt, wenn es um das palästinensische Volk geht. Und dann habe ich das Gefühl, dass die Menschlichkeit von politischem Kalkül und Angst überschattet wird. Es ist kein Wert mehr, der für alle Menschen gilt. Das ist ein düsteres Gefühl. Ich denke immer noch, dass das, was Edward Said geschrieben hat, zu hundert Prozent auch heute anwendbar ist. Aber selbst wenn ich auf bessere Zeiten hoffe, schaffe ich es nicht wirklich, optimistisch zu sein.

Wir müssen Barrieren niederreißen und mehr aufeinander zugehen.
Tal Theodorou, Bratschistin im West-Eastern Divan Orchestra

Tal Theodorou: Ich denke, es ist wirklich wichtig, sich genau an das zu erinnern, was er gesagt hat. Und danach zu handeln. Ich glaube, wenn die Regierungen, die Gesellschaften verstehen würden, dass Menschlichkeit von Empathie und Verständnis kommt, und dass das, was mir zugefügt wird, sich genauso anfühlt wie der Schmerz, der jemand anderem zugefügt wird. Dann erst kann Empathie da sein. Deshalb würde ich niemals einem anderen Menschen Schmerzen zufügen wollen. Wir müssen das weiterdenken. Natürlich verstehe ich das Konzept von Gemeinschaft. Es ist wichtig, eine Gemeinschaft zu haben, aber keine Gemeinschaft ist wichtiger als die andere. Und Leiden ist eine Sache, die auf Gegenseitigkeit beruht. Und Barrieren sind Barrieren. Wir müssen sie niederreißen und mehr aufeinander zugehen. Ich lebe das sehr stark. Und ich denke, dass die meisten unserer Orchestermitglieder auch so denken. Es ist ein gemeinsames Gefühl für uns. Wir glauben fest daran. Es ist das, was uns von Edward Said und Maestro Barenboim eingeflößt wurde.

Sendung: "Allegro" am 30. Oktober 2024 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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