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Die Finkensteiner Singwoche Startschuss für den Bärenreiter-Verlag

Finkenstein, 13. Juli 1923. Der 20-jährige Buchhandelsgehilfe Karl Vötterle steht staunend vor in einer Küche aufgestapelten Lebensmitteln. Bei Nacht hat er heimlich die tschechoslowakische Grenze überquert; dem jungen Mann aus dem inflationserschütterten Deutschland fehlte das Geld für einen Reisepass. Sein Ziel: die Finkensteiner Singwoche.

Finkensteiner Blätter 1923/1924 | Bildquelle: Bärenreiter Verlag

Bildquelle: Bärenreiter Verlag

Das Kalenderblatt zum Anhören

(Bild: Finkensteiner Blätter des Bärenreiter-Verlags, Jg. 1923/1924)

Der Tag beginnt früh in Finkenstein: Um 5.30 Uhr ertönen aus der Ferne Trompetenrufe. Sie wecken 80 junge Männer und Frauen, die sich in der böhmisch-mährischen Grenzregion zu einer Singwoche zusammengefunden haben. Organisator des ungewöhnlichen Unternehmens ist der 35-jährige Julius Janiczek. Unter dem Künstlernamen Walter Hensel betätigt er sich seit Ende des Ersten Weltkriegs als Volksliedsammler, Chorleiter und Volkserzieher. Die Liebe des jugendbewegten Sudetendeutschen gilt dem "echten" deutschen Volkslied und der Musik einer goldenen Vergangenheit. Beides versteht er als Quelle der Erneuerung, die gegen den "Ungeist der Zeit" und den "Schund" der modernen Unterhaltungsmusik verteidigt werden muss.

Ernsthaftigkeit und strenges Üben

Die Finkensteiner Singwoche 1926 in Biblingen | Bildquelle: Wikimedia Commons Die Finkensteiner Singwoche 1926 in Biblingen | Bildquelle: Wikimedia Commons Entsprechend streng ist das Programm, dem sich die Singwochenteilnehmenden – fast alles musikalisches Laien – zu unterwerfen haben: Zunächst ein kaltes Morgenbad und Leibesübungen im Freien. Danach sechseinhalb Stunden ernsthafte musikalische Arbeit: Stimmbildung, Harmonie- und Melodielehre, Musikdeutung, Instrumentalspiel und als Höhepunkt: gemeinsames Singen. Unter Hensels Leitung werden Volkslieder und Chorsätze des 16. bis 18. Jahrhunderts einstudiert. Auch Politisches wie das "alte Kampflied" "Ein feste Burg ist unser Gott". Denn der charismatische Chorleiter, der als Sudentendeutscher mit dem neuen tschechoslowakischen Nationalstaat hadert, sieht im gemeinsamen Gesang ein wirksames Mittel, um die deutsche "Volksgemeinschaft" zu stärken.

Liederbuch als Geschäftsidee

An diesem Tag im Juli 1923 wird auch Karl Vötterles Hunger nach Gemeinschaftserfahrung und Sinnstiftung in Krisenzeiten gestillt. Entscheidend für seinen weiteren Lebensweg ist jedoch eine Geschäftsidee, die er in Finkenstein präsentiert: Die Produktion eines "lebendigen Liederbuches in monatlicher Folge". Bereits acht Wochen später meldet das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel das Erscheinen des ersten Heftes der Finkensteiner Blätter, verlegt in Augsburg-Aumühle vom Bärenreiter-Verlag. Mitte 1925 sind 500.000 Exemplare verkauft. Und als der junge Verlag zwei Jahre später nach Kassel umzieht, hat Vötterle bereits 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und eine kleine Druckerei.

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 13:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 13. Juli 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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Donnerstag, 13.Juli, 13:33 Uhr

Gerlind Preisenhammer

100 Jahre Singwochen

Ganz herzlichen Dank für diesen schönen Beitrag mit den gut gewählten und schön gesungenen Liedbeispielen! Ausgehend von Finkenstein hat die Singwochenbewegung weite Verbreitung gefunden. Noch heute finden jedes Jahr zahlreiche Singwochen von verschiedenen Veranstaltern mit unterschiedlichen Schwerpunkten statt. Die Walther-Hensel-Gesellschaft trifft sich vom 30. Juli - 6. August 2023 zur Jubiläumssingwoche in Bad Kissingen und hält das Erbe von Walther Hensel lebendig.

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