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Buchtipp – John Cranko: "Tanzvisionär" Ein Typ, für den heute kein Platz mehr wäre

Bevor John Cranko nach Stuttgart kam, war das Ballett eine Provinzcompagnie. Zwei Mal im Monat durfte sie in der Staatsoper auftreten. Er formte aus der Truppe ein herausragendes Ensemble. Der Henschel-Verlag ehrt Cranko zum 50. Todestag mit einem umfassenden Buch.

Der Balletttänzer und -choreograph John Cranko | Bildquelle: picture alliance / Mary Evans Picture Library

Bildquelle: picture alliance / Mary Evans Picture Library

"Diese eisblauen, wunderbaren, sehr durchdringenden, aussagekräftigen Augen". So beschreibt ein Tänzer das Fesselnde an John Crankos Ausstrahlung. Und er bringt auf den Punkt, was durchweg alle fasziniert, die mit Cranko zu tun haben - von der Fotografin bis zur Primaballerina, vom kurzzeitigen Partner bis zum langjährigen Sekretär: Augen, groß und klar wie bei einem Kind, die fordern können, Angst zeigen, Trauer, Wut, Verletzlichkeit, die strafen, ermutigen und lachen.

Cranko, der Menschen(er)kenner

Seine Stuttgarter Compagnie stellt er binnen kürzester Zeit aus jungen unbekannten Leuten zusammen. Ihm ist es egal, ob eine Ballerina siebzehn Gramm zu viel auf den Rippen hat, er sucht nach Ausdrucksstärke, nach Sensibilität, nach Energie, nach Typen. Für die junge Brasilianerin Marcia Haydee, die er zum Weltstar machen wird, fletscht er beim Intendanten Schäfer die Zähne: "Die hat keinen Namen, keine Persönlichkeit, keine Ausstrahlung. Was siehst du in ihr?" Da antwortete Cranko: "Chef, ganz einfach: Wenn Sie wollen, dass ich bleibe, muss ich sie haben. Sonst gehe ich."

Cranko, der Empfindsame

Buchcover: John Cranko - Tanzvisionär | Bildquelle: Henschel Verlag Buchcover "John Cranko - Tanzvisionär" | Bildquelle: Henschel Verlag Er beobachtet Menschen, hat ein enormes psychologisches Gespür. Und eine unendliche Sehnsucht nach Liebe. Er schenkt und nimmt von der Compagnie, was er nie in einer zwischenmenschlichen Beziehung erlebt: Liebe. Diese Vertrautheit zwischen ihm und den Tanzenden macht es erst möglich, dass er fragile und doch tiefe Emotionen in deren Bewegungen übertragen kann. Bei ihm gibts keine Drehung ohne Inhalt, Akrobatik ist ihm zuwider. Alles muss eine Geschichte erzählen, eine fast schon filmische Dramaturgie haben.

"Diese Schritte sind nicht einfach Choreographie, das ist eine Konversation! Wenn die Tänzer nicht verstehen, was sie tanzen, dann versteht es das Publikum auch nicht." Zitat aus dem Buch: "Tanzvisionär"

Cranko, der Unersättliche

Nicht nach Geld, nicht nach Ruhm strebt er. Aber nach Kunst und nach Bildung. Deutsch lernt er schnell: In der Kantine trifft man ihn immer beim Kreuzworträtseln. Im Buch gibt's das entsprechende Foto! Pro Tag liest er manchmal drei Bücher, er kennt jedes Wort aus Shakespeares Werken im Original. Und er hört Schallplatten. Bis er die Musik spürt und als Körpersprache empfindet. Er arbeitet mit Zeitgenossen wie Bernd Alois Zimmermann, mit Henze, mit Britten, er verwendet Stücke von Debussy, Mahler, Tschaikowsky, Brahms. Mitten in der Nacht ist das nicht immer eine Freude für seine Mitbewohner:

"Wieder und wieder hat er die Nadel auf dem Plattenspieler zurückgezogen. Diese kleine Variation für Susanne Hanke. Und nochmal von vorne, und nochmal. Ich habe zu Dieter gesagt: 'Ich bring' ihn um.' Das ging so lange bis er eine Idee hatte, was er mit dieser Musik machen will."

John Cranko - Tanzvisionär

Stuttgarter Ballett (Hg.)
288 Seiten, 200 Abbildungen, Hardcover
€49,-
ISBN 978-3-89487-842-9
Henschel Verlag

Cranko, der Labile

Nie ohne Kippe ist Cranko anzutreffen, auch nicht im Ballettsaal. Auch das wieder fotografisch im Buch dokumentiert. Illegale Drogen verabscheut er. Wutanfall und Tränen der Reue liegen nah beisammen. Schlafstörungen bekämpft er mit Medikamenten. Alkohol gehört zum Alltag. Damals lag die Promillegrenze im Strassenverkehr noch bei 1,5.

"Der Bürgermeister hat damals seinen Leuten gesagt: Wenn Herr Cranko um zwei Uhr morgens betrunken in seinem Mercedes fährt: Aufpassen! Wenn wirklich was ist, dann stoppt ihn, aber wenn nicht, dann schaut einfach, dass er gut nach Hause kommt. In all den Jahren ist er in seinem knallroten Mercedes gut nach Hause gekommen."

Cranko, der Vulkan

Er kennt keinen Neid, legt alle Karten offen und fördert den Nachwuchs, wo er nur kann: An Jungspund John Neumeier vergibt er bereits Choreographie-Aufträge, als der noch in Crankos Compagnie tanzt. Cranko weiß, er hat so viele Ideen, die während einer Probe einfach aus ihm heraussprudeln, dass er keine Angst vor Konkurrenz haben muss. Und seine Compagnie saugt alles auf.

"Wir hatten ja keine schicken Wohnungen, kein Auto, keine große Gage, diesen ganzen Luxus von heute – auch dadurch haben wir zusammengehalten."

Ein Zeitdokument

Das Buch über John Cranko ist nicht nur was für Ballettratten, für Neugierige, die das Wunder "Stuttgarter Ballett" und dessen Mutation vom hässlichen Entlein zur Schwanenprinzessin erklärt bekommen wollen. Es ist auch ein Buch über einen Typen, für den in unsere heutigen woken Zeit kein Platz mehr ist: Weil er für die erste durchzechte Nacht in einer Schwulenbar, für den ersten Tobsuchtsanfall im Trainingssaal, für einen rosa Anzug beim Staatsempfang, für manchen choreographischen Einfall in Shakespeares "Widerspenstigen Zähmung" seinen Job im Staatsdienst für immer los wäre. Das Buch über John Cranko ist damit auch ein Zeitdokument von Jürgen Rose, John Neumaier, von Dieter Graefe, Marcia Haydee, Richard Cragun und 15 weiteren Weggefährten. Es ist ein Zeitdokument über eine wilde, kreative, anarchistische und liebevolle Phase deutscher Kulturgeschichte.

Sendung: "Allegro" am 20. Oktober 2023, um 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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