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Antisemitismus in der Klassik Eine Spurensuche

Juden seien von Natur aus nicht in der Lage, wahre Kunst zu erschaffen – das behauptete kein Geringerer als Richard Wagner. Seine Hetzschrift "Das Judenthum in der Musik" hatte fatale Folgen. Zum 9. November, dem Gedenktag zur Reichspogromnacht, bietet BR-KLASSIK ein historisches Close-Up zum Thema Antisemitismus in der Klassik – mit Blick auf die aktuelle Situation.

Portraits der Künstler Felix Mendelssohn Bartholdy, Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Hermann Levi | Bildquelle: picture-alliance/dpa, Montage: BR

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Ein Moment, der Musikgeschichte schrieb: Am 11. März 1829 erklang in Berlin die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Nach Bachs Tod war das barocke Meisterwerk in Vergessenheit geraten. Dass die Berliner Singakademie es wiederaufführte, war einem zwanzigjährigen Musikgenie zu verdanken: Felix Mendelssohn Bartholdy. "Was ist das für ein wunderlicher Zufall, dass es ein Judenjunge sein muss, der den Leuten die größte christliche Musik wiederbringt", meint Mendelssohn nach dem Konzert mit bitterer Selbstironie.

Bach – ein Judenfeind?

Ein getaufter Jude als Leiter einer Passionsaufführung – zu Bachs Lebzeiten wäre das undenkbar gewesen. Von der Kirche als "Gottesmörder" geächtet, lebten Juden in Ghettos, eine gesellschaftliche oder politische Teilhabe war ihnen verwehrt. "Judenhass war damals in der Gesellschaft durchaus normal", erzählt Tina Frühauf, Professorin für Musikwissenschaft an der Columbia University in New York. Das spiegelt sich auch in Bachs Matthäuspassion wider, in der manche Forscherinnen und Forscher antisemitische Tendenzen sehen. In einem furios geschriebenen Chorsatz auf den von Martin Luther übersetzten Text des Matthäusevangeliums verfluchen die Juden sich selbst und singen: "Sein Blut komme über uns und unsre Kinder". In Luthers Deutung bringt diese "Selbstverfluchung" den Juden ewiges Unglück und Verdammnis. War Johann Sebastian Bach also ein Antisemit? Tina Frühauf schüttelt den Kopf: "Bach war zwar geprägt durch die Einflüsse seiner Zeit und durch sein Umfeld, aber er war in erster Linie Musiker". Für eine antijudaistische Haltung Bachs gibt es für sie keine eindeutigen Belege.

Judenhass war damals in der Gesellschaft durchaus normal.
Tina Frühauf, Professorin für Musikwissenschaft an der Columbia University in New York

Originalpartitur "Matthäuspassion" von Johann Sebastian Bach | Bildquelle: picture alliance/akg-images Einige Forscher sehen in Bachs "Matthäuspassion" antijüdische Tendenzen. | Bildquelle: picture alliance/akg-images Felix Mendelssohn hatte offensichtlich kein Problem mit diesen Passagen in Bachs Musik – und läutete mit der Wiederaufführung der "Matthäuspassion" eine Bach-Renaissance ein. Mendelssohn verehrte Bach. Er war selbst protestantisch getauft und erzogen worden. Auch wenn das Judentum ein selbstverständlicher Teil seiner Identität blieb. "Viele Juden sind im Zeitalter der Aufklärung zum Christentum übergetreten", erklärt Jascha Nemtsov, Professor am Lehrstuhl für jüdische Musik der Musikhochschule Weimar. "Sie haben im Christentum keinen Gegensatz zum Judentum gesehen, sondern die gemeinsamen ethischen Werte."

Aufklärung und jüdische Emanzipation

Die Aufklärung brachte dem Judentum die Emanzipation. "Sie wurden anderen Gesellschaftsmitgliedern gleichgestellt. Sie mussten nicht mehr in Ghettos wohnen und durften Berufe ergreifen, die ihnen bislang verboten waren." Das hohe Bildungsniveau und eine Bereitschaft zum Risiko machten das neue jüdische Bürgertum äußerst erfolgreich, so Nemtsov. Das galt auch für das Kultur- und Musikleben. So wurde Felix Mendelssohn zu einem der bedeutendsten Musiker und Komponisten seiner Zeit. Und der jüdische Komponist Giacomo Meyerbeer machte mit seinen Opern international Karriere.

Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy | Bildquelle: picture alliance / akg-images Felix Mendelssohn wurde 1832 als Leiter der Berliner Singakademie abgelehnt – wegen seiner jüdischen Abstammung? | Bildquelle: picture alliance / akg-images Doch die Teilhabe der Juden am gesellschaftlichen und politischen Leben traf auf Neid und Missgunst. Antijüdische Ressentiments waren weit verbreitet. Auch Mendelssohn bekam sie immer wieder zu spüren. Als er sich 1832 als Leiter der Berliner Singakademie bewarb, wurde er abgelehnt. "Dass dem jungen Mendelssohn damals ein Musiker vorgezogen wurde, der ein ganz anderes Format hatte, beinhaltete wohl gewisse antijüdische Aspekte", vermutet Jascha Nemtsov. Offen kommuniziert wurde dies aber von der Singakademie nicht.

Richard Wagner: "Das Judenthum in der Musik"

Neidisch auf den großen Erfolg jüdischer Komponisten wie Mendelssohn oder Meyerbeer war auch der junge Richard Wagner, so Tina Frühauf. "Die Angst, dass es jemandem, der sozusagen nicht aus dem eigenen Kulturkreis kommt, besser geht als einem selbst – dieses Phänomen können wir ja auch heute noch sehen. Und diese Missgunst äußert sich oft darin, andere Gruppierungen zu attackieren." In Wagners Fall ist diese "Attacke" eine Schrift mit dem Titel "Das Judenthum in der Musik". Die erste Fassung erschien 1850. Über Mendelssohn steht dort: "Dieser Mendelssohn hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Tatenfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste, zartempfindende Ehrgefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten."

Wagner macht den Antisemitismus salonfähig

Richard Wagner war Anhänger des "Modernen Antisemitismus", einer neuen Form von Judenhass, die sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verbreitete. Die Feindschaft gegen Juden wurde nun nicht mehr religiös begründet, sondern anhand von vermeintlich naturwissenschaftlichen Argumenten. "Die Andersartigkeit der Juden wird biologisch erklärt", erläutert Nemtsov. "Sie gehören laut dieser Theorie einer anderen Rasse an, der semitischen." Darauf weist der Begriff "Antisemitismus" hin, der 1879 im Umkreis des Publizisten Wilhelm Marr entstand. "Probleme, die man mit den Juden hatte, wurden durch die biologische Natur der Juden erklärbar."

Wagner trägt an der Verbreitung des Antisemitismus eine Mitschuld.
Jens Malte Fischer, Kultur- und Theaterwissenschaftler

Übertragen auf den Kulturbereich bedeutete das für Richard Wagner, dass Juden aufgrund ihrer Natur unfähig seien, wahre Kunst zu erschaffen. Eine antisemitische Ansicht, die sich rasch verbreitete. Denn inzwischen war Richard Wagner ein berühmter Komponist, seine Werke wurden in ganz Europa gespielt. "Wagner hat den Antisemitismus in der Kunstwelt sozusagen salonfähig gemacht. Nach dem Motto: Wenn der berühmte Wagner sich öffentlich antisemitisch äußert, dann dürfen wir das auch", so der Kultur- und Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer. "An der Verbreitung des Antisemitismus trägt er eine Mitschuld."

Hermann Levi, der "Parsifal"-Dirigent

Wagners antisemitische Gesinnung bekam auch der jüdische Dirigent Hermann Levi immer wieder zu spüren, Hofkapellmeister an der Hofoper München und Sohn eines Rabbiners. Levi war selbst ein begeisterter Wagnerianer. Jahrelang arbeitete er mit Wagner in Bayreuth zusammen. Doch der Komponist und seine Frau Cosima bedrängten ihn immer wieder, sich taufen zu lassen. Vor allem vor der Uraufführung des "Parsifal" setzte Wagner Levi unter Druck. Ihm passte es ganz und gar nicht, dass ein Jude ein "christliches Bühnenweihspiel" leiten sollte. Erst als sich König Ludwig II. einmischte und Wagner das Münchner Hofopernorchester nur unter der Bedingung zur Verfügung stellte, dass Levi dirigierte – auch ohne Taufe –, akzeptierte Wagner.

Szenenbild von der Uraufführung des "Parsifal" in Bayreuth | Bildquelle: Max-Reger-Institut Der Jude Hermann Levi dirigierte die Uraufführung von Richard Wagners "Parsifal". | Bildquelle: Max-Reger-Institut Die Uraufführung des "Parsifal" fand am 26. Juli 1882 unter dem Dirigat von Hermann Levi statt. Als Richard Wagner wenige Monate später starb, wurde Levi künstlerischer Leiter der Bayreuther Festspiele. Die antisemitischen Anfeindungen von Wagners Witwe Cosima setzten ihm jedoch so zu, dass seine Gesundheit litt. Schließlich zog er sich aus Bayreuth zurück und verbrachte seine letzten Lebensjahre in Partenkirchen, wo er auch beerdigt ist. Die Nazis schändeten sein Ehrengrab. Erst im Jahr 2019, nach langen Diskussionen, entschloss sich die Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen, Levis Grabmal neu zu gestalten. Einen Entwurf gibt es bereits.

Gustav Mahler lässt sich taufen

Während Hermann Levi eine Konversion zum Christentum zeitlebens ablehnte, sah Gustav Mahler als Sohn jüdischer Eltern in der Taufe die einzige Möglichkeit für eine musikalische Karriere. "Mein Judentum verwehrt mir den Eintritt in jedes Hoftheater. Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen. Überall bläst der gleiche Wind", schrieb er resigniert.

Mein Judentum verwehrt mir den Eintritt in jedes Hoftheater.
Gustav Mahler

Mahler wünschte sich nichts sehnlicher, als Musikdirektor an der Wiener Hofoper zu werden. "Ihm wurde klargemacht, dass er den Posten nicht bekommen würde, wenn er sich nicht taufen lassen würde", erklärt Jens Malte Fischer. "Wien war damals eine Hochburg des Antisemitismus in Europa." Also konvertierte Gustav Mahler im Februar 1897 in der Hamburger St. Ansgarkirche offiziell zum Katholizismus, um das "Problem" seiner jüdischen Herkunft auszuräumen.

Anfeindungen in Wien

Komponist Gustav Mahler | Bildquelle: wikimedia Die Taufe bewahrte Gustav Mahler nicht vor antisemitischen Anfeindungen. | Bildquelle: wikimedia Den ersehnten Posten in Wien bekam er zwar, doch vor antisemitischen Angriffen bewahrte ihn die Taufe nicht. "Antisemitismus war damals nichts Schlimmes in den Augen vieler Leute, und das hat Mahler bitter erfahren müssen." Mahlers gestenreiche Art zu dirigieren wurde zur Zielscheibe antisemitischen Spotts. Außerdem wurde er angegriffen, weil er in Werken von Beethoven und Schumann Bläser einfügte oder Streicher wegließ, erzählt Fischer. "Man sagte ihm, er solle seine 'dreckigen Finger' von den Meisterwerken der Deutschen – im Sinne von arischen – Komponisten lassen."

Antisemitismus war damals nichts Schlimmes in den Augen vieler Leute – das musste Mahler bitter erfahren.
Jens Malte Fischer, Kultur- und Theaterwissenschaftler

Gustav Mahler litt sehr unter den Anfeindungen. Aber seine Taktik war, nicht darauf zu reagieren. Er konzentrierte sich lieber auf seine musikalische Karriere. Als Dirigent wurde er in die großen Konzertsäle Europas eingeladen. Als Komponist hingegen war sein Erfolg durchwachsen. Viele Musikkritiker beschrieben seine Sinfonien als "äußerlich", "bombastisch", aber "seelenlos". Dabei bedienten sie – ob bewusst oder unbewusst –  die zum Klischee verfestigten Vorurteile aus Wagners "Judenthum in der Musik". Vorurteile, die Jens Malte Fischer noch in zahlreichen musikwissenschaftlichen Publikationen der 1950er Jahre entdeckt.

Das Judentum als "Handicap"

Wie tief Wagners antisemitische Behauptungen in die Klassikwelt eindrangen, zeigt sich auch am Beispiel des jüdischen Komponisten Arnold Schönberg. Als junger Mann konvertierte er zum Protestantismus – nicht zuletzt unter dem Einfluss Wagnerscher Ideen, so der Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov: "Für Schönberg war es eine Quelle innerer Qual, dass Juden angeblich zu einer echten Kunst nicht fähig waren. Denn er war Jude und wollte nun mal Künstler werden." Sein Judentum empfand Schönberg als Handicap, das er ablegen wollte. "Auch um nach außen zu signalisieren: Ich gehöre nicht mehr dazu", so Nemtsov.

Für Schönberg war es eine Quelle innerer Qual, dass Juden angeblich nicht zu echter Kunst fähig waren.
Jascha Nemtsov, Professor am Lehrstuhl für jüdische Musik der Musikhochschule Weimar

Arnold Schönberg | Bildquelle: picture-alliance/Imagno Arnold Schönberg ließ sich zuerst taufen, rekonvertierte aber später wieder zum jüdischen Glauben. | Bildquelle: picture-alliance/Imagno Schönberg war zwar offiziell protestantisch, doch er merkte, dass er seine jüdische Identität nicht einfach ablegen konnte – und eigentlich auch gar nicht wollte. Er begann, jüdische Themen in seinen Werken aufzugreifen und setzte sich mit der zionistischen Bewegung auseinander. Die wachsende Judenfeindlichkeit machte ihm schon in den frühen 20er Jahren zunehmend zu schaffen. Als im Jahr 1933 per Gesetz jüdische Beamte aus dem Dienst entfernt werden durften und Schönberg seine Professur an der Preußischen Akademie der Künste verlor, sah er keine andere Möglichkeit mehr als die Emigration.

Arnold Schönbergs Bekenntnis zum Judentum

Im Mai 1933 verließ er mit seiner Frau und seiner Tochter Deutschland. Die Reiseroute: von Berlin über Paris nach Le Havre, von wo sie ein Schiff nach New York bringen sollte. Beim Zwischenstopp in Paris bekannte sich Arnold Schönberg in einer Synagoge wieder offiziell zum Judentum. "Ich war seit 14 Jahren vorbereitet auf das, was jetzt gekommen ist", schrieb er über diesen bedeutsamen Schritt. "Ich habe mich, wenn auch schwer und mit vielen Schwankungen, schließlich definitiv von dem gelöst, was mich an den Okzident gebunden hat. Ich bin seit langem entschlossen, Jude zu sein."

Ich bin seit Langem entschlossen, Jude zu sein.
Arnold Schönberg

"Entartete" Musik

Während Schönberg in den USA als Professor lehrte und komponierte, wurden in Deutschland seine Werke als "entartete Kunst" diffamiert und verboten. "Ein Jude, noch dazu Begründer einer wichtigen Strömung der Neuen Wiener Schule: Damit wurde Schönberg zur Symbolfigur des zersetzenden Einflusses der Juden im Musikleben", sagt Nemtsov. Auch die Kompositionen von Mendelssohn und Mahler galten als "entartet" und wurden von den Spielplänen gestrichen. Das Exil rettete Arnold Schönberg und seine Familie vor dem Holocaust. Im Gegensatz zu unzähligen Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Erschüttert setzte Schönberg den Gräueln des Holocaust ein musikalisches Mahnmal mit seinem Melodram "Ein Überlebender aus Warschau".

Antisemitismus und Israelkritik

Der Professor für Geschichte der Jüdischen Musik an der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar (Thüringen), Jascha Nemtsov, aufgenommen am 11.10.2014.  | Bildquelle: (c) dpa Der Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov hat sich intensiv mit der Geschichte der jüdischen Musik befasst. | Bildquelle: (c) dpa Seit dem Holocaust ist offener Antisemitismus in Deutschland in weiten Gesellschaftsteilen sozial geächtet. Das bedeute aber nicht, dass Antisemitismus der Vergangenheit angehöre, gibt Jascha Nemtsov zu bedenken. "Heute gibt es andere Formen des Judenhasses, die toleriert werden, weil sie eine Art moralisches Mäntelchen benutzen." Stichwort Israelkritik. Auch im Kultur- und Musikleben sei Israelkritik weit verbreitet, so Nemtsov. "Israelkritik hat mit Kritik im eigentlichen Sinne nichts zu tun." Es ginge nicht darum, Missstände anzuprangern oder Dinge zu verbessern. "Israelkritik ist vielmehr eine Form, eigene Ressentiments, zum Teil auch irrationalen Hass zum Ausdruck zu bringen."

Israelbezogener Antisemitismus ist die aktuell gängigste Form des Antisemitismus – auch in Deutschland.
Björn Gottstein, bis 2022 Leiter der Donaueschinger Musiktage

So sah das auch Björn Gottstein, der ehemalige Leiter der Donaueschinger Musiktage, als er 2018 ein israelkritisches Werk des Komponisten Wieland Hoban ablehnte: "Israelbezogener Antisemitismus ist die aktuell gängigste Form des Antisemitismus – auch in Deutschland. Daher würde ich es für ein fatales Signal halten, wenn bei den Donaueschinger Musiktagen ausgerechnet Israel als einziger Staat in einem Musikstück massiv kritisiert wird." Wieland Hoban, dem seine jüdische Herkunft wichtig ist, warf dem Festivalleiter Zensur vor und behauptete, im deutschen Kulturleben werde eine kritische Debatte über Israel verhindert. Zahlreiche Musikerkolleginnen und -kollegen unterzeichneten seinen Offenen Brief.

Antisemitische Stereotypen in SZ-Artikel über Igor Levit?

Igor Levit | Bildquelle: Robbie Lawrence Der Pianist Igor Levit wurde im Oktober 2020 in einem polemischen Artikel in der SZ attackiert. | Bildquelle: Robbie Lawrence Die Diskussion zwischen Wieland Hoban und Björn Gottstein machte deutlich, wie kontrovers das Thema Antisemitismus in der klassischen Musikszene diskutiert wird. Als im Oktober 2020 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung ein polemischer Artikel über den Pianisten Igor Levit erschien, sorgte der Text wochenlang für Diskussionen im Netz. Der Autor Helmut Mauró hatte nicht nur Levits Klavierspiel kritisiert, sondern auch, wie Levit sich auf Twitter gegen Antisemitismus engagierte. Viele Leserbriefschreiber und Journalisten, darunter zahlreiche SZ-Redakteurinnen und -Redakteure, waren empört und sahen in Maurós Text antisemitische Sprachbilder und Formulierungen. Besonders der Begriff "Opferanspruchsideologie" im Zusammenhang mit der jüdischen Identität des Pianisten stieß auf heftige Kritik; die Chefredaktion entschuldigte sich daraufhin öffentlich.

Die Vergangenheit aufarbeiten - aber wie?

Wenn es um Antisemitismus in der Klassik geht, ist für Tina Frühauf die Aufarbeitung der Vergangenheit eine wichtige Aufgabe. Für ihr aktuelles Buch "Transcending Dystopia: Music, Mobility, and the German-Jewish Community" hat sie sich intensiv mit jüdischen Komponisten auseinandergesetzt, deren Musik im Nationalsozialismus als "entartet" zensiert und später vergessen wurden.

Zeitgenössische Porträt-Fotografie von Hans Krása, Komponist der Kinderoper "Brundibár"  | Bildquelle: © dpa Der Komponist Hans Krása wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Seine Werke sind heute nahezu vergessen. | Bildquelle: © dpa "Nach 1945 hat sich auf deutschem Boden sehr viel getan. Doch die Erweiterung des Kanons in der klassischen Musik ist ein langsamer Prozess", betont Frühauf. Einige Komponisten wie Mendelssohn oder Mahler sind längst wieder Teil des Kanons. Andere fristen noch immer ein Nischendasein. "Aber es gibt Organisationen, die sich darauf fokussieren, Komponisten zu rehabilitieren und in den Aufführungsplan zu bringen." Tina Frühauf denkt dabei an Viktor Ullmann oder an Hans Krása, die in Auschwitz ermordet wurden. Es sei wichtig, dass sich die großen Orchester den vergessenen Werken dieser Komponisten widmen und sie ins Repertoire aufnehmen, so die Musikwissenschaftlerin. "Denn nur dann ziehen die kleineren auch nach."

Junge Menschen sensibilisieren

Karin Germerdonk | Bildquelle: Forum Alma Rosé Bildquelle: Forum Alma Rosé "Es ist der aufkommende Antisemitismus, der mich einfach aufregt", sagt Karin Germerdonk im Gespräch mit BR-KLASSIK. Die promovierte Musikhistorikerin beobachtet schon länger mit Unbehagen, wie judenfeindliche Anspielungen bewusst über Musik transportiert werden. Etwa über das Genre Gangsta-Rap, das gerade bei Jugendlichen sehr beliebt ist. Häufig werden in den Texten auch sexistische Rollenbilder, Homophobie und autoritäre Gesellschaftsvorstellungen bedient. Dafür will Karin Germerdonk gerade junge Menschen sensibilisieren - und hat gemeinsam mit ihrer Partnerin, der Historikerin und Politologin Ulla Stelzer, das Forum Alma Rosé ins Leben gerufen.

Innerer Widerstand durch Musik: Alma Rosé

Die Lebensgeschichte der Namenspatin des Forums geht Karin Germerdonk besonders nah. Alma Rosé war eine hervorragende Geigerin und wuchs in einem jüdischen Haushalt auf. 1943 wurde sie ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und gründete dort trotz der unmenschlichen Bedingungen ein Mädchenorchester. "Sie wusste, dass sie und die anderen Musikerinnen nur überleben können, wenn sie Bestleistungen bringen", erzählt Germerdonk. "Alma Rosé war mit ihrer Musik in ihrer eigenen Welt und dadurch dem Wachpersonal eigentlich nicht greifbar. Eine Form von Widerstand, die einzigartig ist." Dank der engagierten Geigerin haben einige Frauen des Orchesters das Konzentrationslager überlebt, darunter die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch. Alma Rosé hingegen starb im April 1944.

Initiativen gegen Rechts sichtbar machen

Das Forum möchte die Musik und Literatur derjenigen thematisieren, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden - wie Alma Rosé. Geplant ist beispielsweise eine Tour quer durch Deutschland "auf der Suche nach den Wirkungsstätten der Nationalsozialisten und vor allem auf der Suche nach den Spuren ihrer Opfer", so Karin Germerdonk. Gleichzeitig will das Forum Alma Rosé aufzeigen, welche weiteren Vereine und Initiativen sich heute gegen die Neonazis, gegen Rechtsradikalismus oder gegen die AfD stellen. Ein weiterer Plan ist ein Wettbewerb zur Vertonung jüdischer Literatur, der sich speziell an junge Menschen richtet. Die Ergebnisse sollen dann als Performance im Internet zu sehen sein.

Vermehrt Antisemitismus seit dem Angriff auf Israel

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel Anfang Oktober 2023 ist Antisemitismus in verschiedenen Ebenen und Bereichen wieder das aktuelle Nachrichtenthema, auch und gerade in Deutschland. Einmal mehr werden Israelkritik und Antisemitismus in einer gefährlichen Gemengelage vermischt. Die Klassik-Szene zeigt sich international geschockt. So gibt es neben verurteilenden Worten auch Konzerte, um ein Zeichen zu setzen und Hoffnung zu spenden, darunter in Israel selbst, in den USA, aber auch in Deutschland, etwa in Cottbus oder in Hamburg. Der Pianist Igor Levit beklagt indes ein weit verbreitetes Schweigen "in großen Teilen der deutschen Kulturlandschaft" und lädt zu einem Solidaritätskonzert am 27. November im "Berliner Ensemble" an der Seite u.a. von Ulrich Noethen, Michel Friedman und Luisa Neubauer. "So kann es nicht weitegehen", schreibt Levit in der Ankündigung des Konzerts, das unter dem Motto "Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus" steht.

Sendung: Allegro am 9.11.2023 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (6)

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Freitag, 29.Januar, 10:44 Uhr

Lisa Sauer

Antisemitismus in der Klassik

Ich habe mich sehr über die verdienstvolle Zusammenstellung und Darstellung von Frau Antonia Morin gefreut! Vielen Dank!

Freitag, 29.Januar, 08:22 Uhr

Markus Gannott

Antisemitismus in der DDR

In der aktuellen Diskussion um den aufkommenden neuerlichen Antisemitismus sehe ich auch den Beitrag der untergegangenen DDR - hier war er Teil der Staatsideologie: Dies äußerte sich in der Formulierung "Palästinensische Befreiungsorganisation PLO", bei gleichzeitiger Verachtung des Staates Israels als "Handlanger des US-Imperialismus und Kriegstreiber"...

Donnerstag, 28.Januar, 17:25 Uhr

Dr. Susanne Mühlhoff

Israelbezogener Antisemitismus - eine Analyse

Wer in Ergänzung zu den wichtigen Ausführungen von Herrn Dr. Conrad eine umfassende Analyse sucht, dem empfehle ich den Essay von Aleida Assmann, Polarisieren oder solidarisieren? Ein Rückblick auf die Mbembe-Debatte in Merkur, Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, S. 5, Heft 860, Januar 2021, 75. Jahrgang!

Mittwoch, 27.Januar, 21:17 Uhr

Hermann Meyer

Antisemitismus in Deutschland

Antisemitismus ist auch in der deutschen Sprache (viel Schwein, dumme Sau, etc.) verankert. Eine sehr schöne Übung für Grundschüler zum Malen... [Der Religionsbaum]
Die einzig richtige Lösung, ein Zitat von Albert Einstein: "Alle Religionen, Künste und Wissenschaften sind Äste des gleichen Baumes. Alle diese Bestrebungen sind darauf gerichtet, das menschliche Leben zu veredeln, es aus der Sphäre eines bloß vitalen Daseins herauszuheben und das Individuum zur inneren Befreiung zu führen." Jahre, 28

Mittwoch, 27.Januar, 15:56 Uhr

Hoffmann

Antisemitismus

Ein andauernd keikles und beschämendes Thema. Darf nie vergessen werden. Es gibt nicht nur die SHOA, sicher einer der Höhepunkte der menschlichen Ungeheuerlichkeiten, es gibt leider immer noch allzuviel Hass und Verachtung einer Religion gegenüber. Leider ist jeglicher Fanatiker unbelehrbar da er nur für seine überzeugung geltende Argumente akzeptiert, eigentlich die Quintessenz des Fanatismus. Doch soll man nicht aufhören dagegen anzu kämpfen. Es gibt Demos mit Verletzten, gar Toten, gegen die Maskenpflicht. Gibt es welche gegen Antisemitismus?

Dienstag, 26.Januar, 13:07 Uhr

Dr. Holger Conrad

Israelbezogener Antisemitismus

Zum Thema "Israelbezogener Antisemitismus" möchte ich auch die Intelligenzija und die (auch kulturellen) Eliten bitten, endlich zwischen dem immer noch unerträglichen Antisemitismus und dem Recht auf demokratisch legitimierte Kritik an einer Staatsführung zu unterscheiden. Warum Israel hier eine "Deutscher:-fass-mich-nicht-an!-Sonderrolle" spielen sollte, mag mit einem Art Volks-Schuldgefühl gegenüber den meist jüdischen Bewohnern des Staates Israel zu tun haben. Dieser "Logik" folgend dürften wir Deutschen auch alle anderen Staaten in ihren politischen Entscheidungen und Handlungen nicht kritisieren, denen wir von der Kolonialzeit bis zum Ende des zweiten Weltkrieges Unrecht angetan haben. Ich verabscheue jede Form von Diskriminierung und ganz besonders den Antisemitismus. Ich lasse mir aber nicht vorschreiben, wie ich zum Beispiel die Siedlungspolitik Israels zu bewerten habe,was in diesem tollen Artikel zum Glück auch keiner tut. Mit Gruß, Holger Conrad

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