Unkontrolliertes Zittern, Atemnot, Panik: Viele Musiker:innen leiden unter Lampenfieber und Auftrittsangst – und greifen zu Betablockern. Doch nur wenige sprechen offen darüber.
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"Ich hatte früher extrem mit Nervosität zu kämpfen. Meine Bogenhand hat gezittert und ich hatte nicht mehr wirklich Kontrolle über die Tongebung." Besonders belastend waren für die Geigerin Clara Scholtes die Probespiele für eine feste Stelle im Orchester. Nur wenige Minuten hatte sie Zeit, um die Orchestermitglieder im Saal von sich zu überzeugen. Alles musste funktionieren, sie hatte nur eine Chance - und dann zitterte der Bogen. Clara Scholtes suchte Abhilfe. "Ich habe mich mit Freunden und Freundinnen ausgetauscht, was sie in dieser Situation machen. Und oft kam die Rückmeldung: Probier mal einen Betablocker."
Diese Medikamente werden eigentlich bei Bluthochdruck und Herzkrankheiten verschrieben. Sie blockieren die Beta-Rezeptoren an den Körperorganen, wodurch Stresshormone weder den Herzschlag noch den Blutdruck erhöhen können. Deshalb greifen auch Musikerinnen und Musikern in extremen Stresssituationen zu Beta-Rezeptoren-Blockern, vor allem bei Probespielen für eine Orchesterstelle, bei Wettbewerben oder wichtigen Konzerten.
Der Podcast "Klassik für Klugscheisser" widmet sich in seiner 100. Folge dem Thema Lampenfieber. Die Hosts Laury und Uli zeigen, wie aus Nervenflattern der perfekte Auftritt entstehen kann und sie beleuchten die nervenaufreibende Gratwanderung zwischen Angst und Adenalin. Die Folge gibt's hier in der ARD Audiothek.
Eckart Altenmüller, Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin | Bildquelle: picture-alliance/dpa
Nicht alle nehmen die Medikamente unter ärztlicher Aufsicht ein, obwohl sie in Deutschland verschreibungspflichtig sind. Auch die Geigerin Clara Scholtes hat auf eigene Faust experimentiert, welche Dosis sie braucht, um bei Probespielen ruhiger zu sein. Mit gemischten Ergebnissen: "An manchen Tagen habe ich gar nichts gemerkt. An anderen Tagen war ich wie verschlafen oder bin nicht richtig in Fahrt gekommen." Schwindel, zu niedriger Blutdruck und Herzrhythmusstörungen können auftreten, wenn man als gesunder Mensch zu Betablockern greift. Bei Personen mit Asthma kann die Einnahme auch zu Atemnot führen. "Und eine Langzeit-Nebenwirkung, die weniger bekannt ist, ist tatsächlich, dass eine Art subdepressive Stimmung entsteht", warnt Eckart Altenmüller, Arzt und ehemaliger Direktor des Instituts für Musikerphysiologie und Musiker-Medizin.
"Wenn man dauerhaft Betablocker einnimmt, kann es auch zu einer psychischen Abhängigkeit kommen", so der Mediziner weiter. "Ich erinnere mich an einen jungen Hornisten, der exzellent spielte. Er hatte ein Probespiel für eine Stelle als Solo-Hornist in einem renommierten deutschen Orchester und hat von mir damals Betablocker verschrieben kommen." Der Hornist bekam die Stelle, erzählt Altenmüller. Doch dann wurde der Druck im Probejahr so groß, dass er sich nicht traute, längere Soli im Orchester ohne Beta-Rezeptoren-Blocker zu spielen. "Seither nimmt der Hornist zwanzig Minuten vor jeder Aufführung zwanzig Milligramm Propranolol ein."
"Wenn man dauerhaft Betablocker einnimmt, kann es zu einer psychischen Abhängigkeit kommen." Eckart Altenmüller
Um nicht in diese Abhängigkeit zu geraten, ist es sehr wichtig, dass die Musikerinnen und Musiker ihren Erfolg bei einem Probespiel oder Wettbewerb nicht dem Betablocker zuschreiben, sondern den eigenen Leistungen. "Die eigenen Potenziale lassen sich mit Hilfe eines Betablockers optimal entfalten, aber der Erfolg liegt letztendlich an dieser jahrzehntelangen ständigen Arbeit mit dem Instrument und mit der Musik."
Orchestergraben in der Bayerischen Staatsoper | Bildquelle: Bayerische Staatsoper
Deswegen sind Betablocker auch nicht mit Doping vergleichbar, sagt Eckart Altenmüller, "denn sie erhöhen die Leistung nicht künstlich." Wer beispielsweise eine technisch schwierige Stelle nicht beherrscht, wird sie nicht plötzlich mit Betablockern besser spielen können. Trotzdem sind die Medikamente in der Musikszene ein Tabuthema. Kaum jemand spricht darüber, dass er gegen Stress auf der Bühne Pillen schluckt. "Musiker schämen sich, dass sie diese Krücke brauchen, obwohl sie professionell sind. In unserer Gesellschaft, die ja extrem leistungsorientiert ist, will man sich keine Schwäche eingestehen."
Clara Scholtes hingegen geht offen damit um, dass sie in ihrer Probespielzeit ab und zu Betablocker genommen hat. "Ich persönlich sehe darin nichts Verwerfliches. Ich würde auch niemandem einen Vorwurf daraus machen, wenn er oder sie mit Betablockern spielt. Ich habe eher Verständnis und denke mir: Ach Gott, du armer Mensch, du kämpfst wahrscheinlich mit Nerven, die dich sonst wirklich lähmen."
Musiker schämen sich, dass sie diese Krücke brauchen, obwohl sie professionell sind.
Kritisch sieht Clara Scholtes hingegen das "System Probespiel". Denn es könne ja nicht im Sinne der Orchester sein, dass Bewerberinnen und Bewerber reihenweise zu Medikamenten greifen, weil das Auswahlverfahren einfach zu viel Druck aufbaut. "Vielleicht kann man grundsätzlich einfach drüber nachdenken, wie diese Probespielsituation weniger stressig und menschlicher werden könnte."
Sie selbst hat vor fünf Jahren schließlich ein Probespiel für eine Tuttistelle beim Bayerischen Staatsorchester gewonnen – ohne Betablocker. Inzwischen hat die Geigerin eine andere Lösung gefunden, um mit Nervosität vor Auftritten klarzukommen. "Ich habe angefangen, mit einer Mentaltrainerin zu arbeiten und super Erfahrungen damit gemacht. Man kann sich selbst quasi beibringen, vor bestimmten Dingen keine Angst haben zu müssen."
Claudia Spahn, Professorin für Musikermedizin | Bildquelle: Britt Schilling
Mentale Strategien statt Betablocker: Diesen Ansatz vertritt auch die Medizinerin Claudia Spahn. Sie ist eine der führenden Forscherinnen im Bereich Lampenfieber und Auftrittsangst. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Bernhard Richter leitet sie das Freiburger Institut für Musikermedizin (FIM) an der dortigen Musikhochschule und dem Universitätsklinikum. "Ich sage immer: Musiker sein ist ja keine Krankheit. Deswegen sollte man dafür auch keine Medikamente einnehmen müssen, jedenfalls nicht dauerhaft."
Seit zwanzig Jahren kommen Musikerinnen und Musiker, die von starkem Lampenfieber und Auftrittsangst geplagt werden, zu ihr in die musikermedizinische Ambulanz des FIM. Viele seien paradoxerweise der Überzeugung, dass nur sie allein solche Probleme hätten, erzählt Claudia Spahn. Da könne schon gute Kommunikation helfen. "Wenn Musikerinnen und Musiker dann in einer Gruppe, zum Beispiel im Orchester, ihre Geschichten teilen, führt das zu einer großen Entlastung." Denn wer sich nicht mehr als Einzelkämpfer sieht, der keine Fehler machen darf, sondern als Teil einer unterstützenden Gemeinschaft, hat automatisch weniger Angst. "Da können sie die Betablocker glatt alle einsparen."
Musiker sein ist ja keine Krankheit. Deswegen sollte man dafür auch keine Medikamente einnehmen müssen, jedenfalls nicht dauerhaft.
Claudia Spahn freut sich, dass inzwischen immer mehr Musikhochschulen Auftritts- und Mentaltraining anbieten. Ein wichtiger Schritt für einen gesunden Umgang mit Lampenfieber und Auftrittsangst – ohne Medikamente. Seit zwei Jahren gibt es an der Hochschule für Musik Freiburg sogar den Masterstudiengang "Musikphysiologie", bei dem es auch um die Psychologie des Musizierens und Auftretens geht. Ein bundesweit einmaliges Lehrangebot. "Die Idee dabei ist, dass die Musikerinnen und Musiker bereits im Masterstudium Kompetenzen erwerben, die sie für sich nutzen und auch im Orchester, an Musikschulen oder in freiberuflichen Ensembles mit Kolleginnen und Kollegen teilen können. Das könnte mittel- und langfristig ein Gamechanger sein."
Sendung: "Leporello" am 11. Juni 2025 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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