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Antisemitismus in Deutschland Pianist Igor Levit über neuen Judenhass

Wie geht man als deutscher Jude mit der aktuellen Welle von Antisemitismus um? Igor Levit reiste nach Israel und spielte ein Konzert für Hamas-Opfer. Im Gespräch mit BR-KLASSIK erzählt der Pianist von seiner Situation zwischen Solidarität und neuem Antisemitismus in Deutschland.

Igor Levit, Pianist spricht bei der Kundgebung "Fridays for Israel". Die Kundgebung plädiert für das Existenzrecht Israels, die Sicherheit jüdischer Studierender und kämpft gegen den zunehmenden Antisemitismus. | Bildquelle: picture alliance/dpa | Britta Pedersen

Bildquelle: picture alliance/dpa | Britta Pedersen

BR-KLASSIK: Igor Levit, du warst einige Tage in Israel. Dort hattest du ganz besondere Begegnungen. Du hast dich mit Eltern getroffen, deren Kinder von der Hamas entführt wurden. Du hast in einem Krankenhaus gespielt. Was hat dir das gegeben? Und was wolltest du den Menschen geben?

Igor Levit: Ich habe mich auch mit Großeltern getroffen, mit Geschwistern. Ich bin einer jungen Sängerin begegnet, deren Brüder weg sind. Nicht mal das Rote Kreuz weiß, wo diese Menschen sind. Was mir das gegeben hat, ist für mich gerade nicht die entscheidende Frage. Die Eindrücke waren so intensiv und so vielschichtig, wunderschön und schlimm, dass ich wohl ein paar Tage brauchen werde, damit sich diese Gefühle setzen.

Wenn ein Großvater neben dir sitzt und sagt: Sieben meiner Kinder sind weg, Kinder und Enkelkinder, und er anfängt, ihre Namen aufzuzählen… Und alles, was ich ihm geben kann, sind fünf Minuten Musik. Dafür habe ich keine Worte. Trotzdem wollte ich nach Israel und werde jetzt auch regelmäßig hinfliegen.

BR-KLASSIK: Warum wolltest du hin?

Igor Levit: Ich habe nach dem Angriff, nach dem Pogrom, nach der Terrorattacke der Hamas gegen Juden am 7. Oktober auf israelischem Territorium ungefähr acht bis neun Tage gearbeitet: Ich war in Amerika. Aber im Grunde habe ich die Zeit in einer Art Sprach-Paralyse verbracht. Ich wusste überhaupt nicht, wohin mit mir. Als ich dann ein bisschen klarer denken konnte, wusste ich: Der eine Ort, an den ich hinwill, ist Israel. Mein Volk wurde angegriffen. Das ist ein Gefühl, das für mich neu war. Ich fühlte mich plötzlich stärker als Jude denn je zuvor. Und ich hatte das dringende Bedürfnis, nach Israel zu fliegen und einfach Musik zu machen und da zu sein. Ich habe dann zwei, drei Kontakte von mir aktiviert und gesagt: Was kann ich tun? Wie kann ich Solidarität zeigen? Wie kann ich Verbundenheit zeigen?  

Levit in Israel: ZWISCHEN SOLIDARITÄT UND SICHERHEITSBEDENKEN

BR-KLASSIK: Und wie konntest du eine solche Verbundenheit zeigen?

Igor Levit: Es entstanden ganz viele Pläne, die aus Sicherheitsgründen immer wieder überworfen wurden. Ich hätte nach Eilat fliegen können, wo sehr viele leben, die umgesiedelt wurden: Überlebende aus den Kibbuzim, die angegriffen wurden. Das klappte dann aus Sicherheitsgründen nicht. Ich hätte in die Kibbuzim fahren können. Das klappte auch nicht aus Sicherheitsgründen. So wurden Pläne Tag für Tag gemacht – und wieder umgeworfen. Bis sich dann zwei, drei Begegnungen herauskristallisierten, die stattfinden konnten. Eine Begegnung mit Familienangehörigen von Entführten, eine mit Verletzten im Krankenhaus und eine wunderschöne Begegnung mit engsten Freunden des Israel Philharmonic Orchestra. So entstanden auch wunderschöne Momente. Aber die Begegnung mit den Familien war niederschmetternd.

 BR-KLASSIK: Welche Musik hast du für sie gespielt?

Igor Levit: Ich wusste erst einmal gar nicht, was ich spielen soll. Das Ganze fand statt im Rahmen einer Organisation, die ein ehemaliger israelischer Regierungsbeamter ins Leben gerufen hat. Der diesen Familien ein Gesicht gibt, der ihnen Kontakte verschafft.

Dann habe ich einfach Musik für die Menschen gemacht.
​ Igor Levit

Es fing damit an, dass ich am Instrument saß und die Menschen einfach ihre Geschichten erzählt haben. Und wir haben zugehört. Und dann setz dich mal ans Instrument und spiele ... Ich konnte zuerst überhaupt nicht anfangen. Und dann habe ich ein bisschen Beethoven gespielt – und Johann Sebastian Bach. Und mit einer wunderbaren israelischen Sängerin habe ich zusammen ein paar ihrer Lieder gespielt, einfach Musik für die Menschen gemacht. Was ich eben einfach machen kann.

EINE SEKUNDE TROST SCHENKEN

BR-KLASSIK: Hast du versucht, mit der Musik zu antworten?

Igor Levit: Darauf kannst du nicht antworten. Ich habe einfach versucht, vielleicht eine Sekunde Trost zu schenken.

BR-KLASSIK: Du hast gesagt, du seiest durch den Terror vom 7. Oktober und vor allen Dingen auch durch die Reaktion – und auch die ausbleibende Reaktion in Deutschland, in deinem Land – mehr zum Juden gemacht worden denn je. Du bist dann in den ersten Tagen danach in eine Synagoge gegangen. Was du früher ganz selten gemacht hast.

Igor Levit: Ich kann keine genaue Zahl nennen. Aber ich vermute, ich war nicht häufiger als fünf, sechs Mal in meinem Leben in einer Synagoge. Das ist kein Ort, den ich kenne. Ich wurde nicht religiös erzogen. Ich war und bin kein besonders gläubiger Mensch. Doch als ich in der ersten Woche nach der Terrorattacke in Los Angeles war, wusste ich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr, wohin mit mir. Irgendwie musste ich in Kontakt treten mit Menschen, um mich nicht alleine zu fühlen. Die arme Elim Chan, die Dirigentin, mit der ich beim LA Philharmonic war. Jeden Tag habe ich sie mit meinen Gefühlen, Gedanken, Ängsten und Sorgen überfordert …

BR-KLASSIK: Wie hat Elim Chan, die ja dirigiert hat, darauf reagiert?

Igor Levit: Sie ist wundervoll und war für mich da. Aber ich musste einfach irgendwohin mit mir. Und dann hat sich über eine Freundin eine Begegnung mit Jüdinnen und Juden in einer sehr großen, wunderschönen Synagoge ergeben.

Igor Levit über anti-isrealische Reaktionen und Aggression gegen Juden

BR-KLASSIK: Was machen die anti-isrealischen Reaktionen mit dir?

Igor Levit: Es ist eine Kombination von Dingen. Es ist eine niederschmetternde, mehrheitliche Nicht-Reaktion, Nicht-Empathie, die auch sehr viele erleben, mit denen ich spreche. Ich fühle mich da nicht allein in der Enttäuschung. Es ist die Aggression, die ich erlebe, die niederschmetternd ist. Es sind gefühlt keine 24 Stunden nach der Terrorattacke vergangen, da liefen schon unzählige Menschen auf der Straße und riefen im Grunde genommen zwischen den Zeilen – oder sogar nicht zwischen den Zeilen – zu weiteren Massakern an Juden auf.

BR-KLASSIK: Hier in Berlin.

Igor Levit: In Berlin, in anderen Städten, in anderen Ländern. Plötzlich stellst du dir die Frage: Okay, was passiert denn hier gerade eigentlich? Besonders als dann von so vielen, von denen ich Solidarität und Empathie erhofft hatte, gar nichts kam. Auch von Menschen aus deinem und meinem Arbeitsbereich, aus der Kulturwelt ...

BR-KLASSIK: Auch von Linken, denen du dich eigentlich verbunden fühlst.

Igor Levit: Da war dann die Erschütterung komplett. Plötzlich sitze ich da auf der Couch und denke mir: Aha. Also wer bin ich jetzt gerade nochmal für euch? Das ist kein schönes Gefühl.

Es gab schon einige Häuser und Kolleginnen und Kollegen, die sich sofort solidarisch gezeigt haben mit Jüdinnen und Juden in Deutschland.
​ Igor Levit

BR-KLASSIK: Nach einer Verzögerung ist bei manchen aber der Groschen gefallen. Der Vizekanzler war bei Dir, hat mit Dir geredet. Das ist ja nicht Nichts...

Robert Habeck (r), unterhält sich auf der 43. Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen in Leipzig mit dem Pianisten Igor Levit. | Bildquelle: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt Igor Levit und Robert Habeck. | Bildquelle: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt Igor Levit: Kurz zur Einordnung: Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck war von Beginn an empathisch. Der kam nicht erst drei, vier Wochen später. Er war sofort da, und einige andere auch. Ich will nicht pauschalisieren. Aber die Gespräche, die ich mit einigen führen musste, verantwortlichen Direktoren, teils Intendanten, Kollegen, die - Gottseidank - immer da waren bei anderen Krisen, wie zum Beispiel im Fall des russischen Angriffskrieges oder der Unterstützung der Solidarität mit den iranischen Frauen. Da wurden Programme geändert, es wurden musikalische Werke aufgeführt aus Solidarität, Fahnen wurden gehisst, Statements wurden verlesen, Kontakte wurden geknüpft, Künstlerinnen und Künstler wurden eingeladen. Aber es gab schon einige Häuser und Kolleginnen und Kollegen, die sich sofort solidarisch gezeigt haben mit Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Es bricht ein Judenhass sich Bahn auf deutschen Straßen. Wo seid ihr?
​ Igor Levit

Levit: "Ich bin nicht Israel. Ich bin ein Jude in Deutschland"

BR-KLASSIK: Aber verglichen mit den Reaktionen, die es nach den Anschlägen in Paris gab, blieb es still. "Je suis Charlie" stand überall. Eine solche flächendeckende Identifikation bleibt aus.

Igor Levit: Ich könnte lachen, wenn ich nur darüber nachdenke, wie bizarr diese Stille bei den allermeisten ist. Aber dann habe ich Gespräche geführt und habe gesagt: Sag mal, wo seid ihr eigentlich? Es bricht sich Judenhass Bahn auf deutschen Straßen. Wo seid ihr? Und die Antwort war: Ja, ich verstehe dich, aber Israel ist halt so kompliziert. Aber es geht um eine Explosion von Judenhass auf deutschen Straßen. "Israel ist kompliziert" - das ist eine Ablenkung. Ich bin nicht Israel. Ich bin kein Israeli. Ich bin ein Jude in Deutschland, der dich fragt, wo du bist. Und dann kommt gar nichts. Und da lege ich dann das Telefon auf und denke mir: Okay, das registriere ich mal. Aber ich kann nicht so tun, als hätte dieses Gespräch nicht stattgefunden. Ich kann nicht so tun, als wäre das alles nicht passiert.

BR-KLASSIK: Wie hast du mit jüdischen Freundinnen und Freunden darüber gesprochen?

Igor Levit: Natürlich gibt es verschiedene Perspektiven. Nichts ist komplizierter, nichts ist älter als die innerjüdische Diskussion über Identitäten. Das ist so alt wie unsere Geschichte selbst. Ich führe seit einigen Wochen Gespräche mit jüdischen Freundinnen und Freunden aus verschiedensten Ländern, aus verschiedensten Altersgruppen, verschiedensten Professionen. Die Bedrückung und die Beklemmung und die Erschütterung und die Enttäuschung ist im Grunde genommen bei allen gleich.

WOHLTUENDE KLARHEIT SEITENS DER DEUTSCHEN POLITIK

BR-KLASSIK: Aber wenn man die Reaktionen in Deutschland vergleicht mit denen in anderen europäischen Ländern, dann gibt es doch zumindest in der Berichterstattung einen großen Unterschied. Da ist Deutschland doch verhältnismäßig solidarisch mit Israel.

Igor Levit: Es gibt in Deutschland ohne Frage eine sehr wohltuende Klarheit seitens der Politik.

BR-KLASSIK: ... und das gilt eigentlich auch über das gesamte politische Spektrum, also von der taz bis zur WELT...

Igor Levit: Stimmt. Aus der politischen Welt heraus ist die Haltung eindeutig – parteiübergreifend, ob die Grünen oder die Sozialdemokraten: Wie Kevin Kühnert reagiert hat zu Beginn, war bemerkenswert. Auch Michael Roth von der SPD, wie gesagt, Robert Habeck, Annalena Baerbock. Die Haltung des Bundeskanzlers ist klar.

BR-KLASSIK: Auch bei der CDU.

Igor Levit: Bei der CDU sowieso. Das ist ein wohltuendes Kapitel in diesen schlimmen Wochen. Es ist ja nicht so, dass ich und auch andere keine Empathie erfahren. Aber sie kommt von überraschenden Stellen. Das gibt mir sehr zu denken, das verändert auch sehr viel. Konservative Politikerinnen und Politiker melden sich, konservative Journalisten. Aber diejenigen, von denen ich das eigentlich erwartet und gehofft hatte, sind entweder nicht da oder stehen auf der Straße und solidarisieren sich mit Menschen, die im Grunde genommen meine Auslöschung herbeirufen wollen. Und das ist schon bitter.

Ich bin auch deutscher Staatsbürger. Ich mag diese Demokratie sehr und diesen Rechtsstaat auch.
​Igor Levit

Und das andere, was bitter ist: Ich bin deutscher Staatsbürger. Ich mag diese Demokratie sehr und diesen Rechtsstaat. Und die Idee des Artikels Eins des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich würde sie gern behalten. Ich glaube, sehr viele würden sie gerne behalten. Nur Freunde, dann überlegt euch doch mal: Was bedeutet der Ruf "Tod den Juden"? "Tod den Juden" ist Tod der Demokratie, ist der Tod des Artikels Eins des Grundgesetzes: Tod der Menschenwürde. Wenn jetzt jemand auf die Straße gehen würde und rufen würde: Tod den Sparkassen-Mitarbeitern – und das meine ich total ernst –, dann  würde ich auf die Straße gehen und sagen: Ich erkläre mich solidarisch mit allen Sparkassenmitarbeitern. Meiner Solidarität als deutscher Staatsbürger können sich all diese Menschen gewiss sein. Bei "Tod den Juden" reicht es für gefühlt 10.000 am Brandenburger Tor und ein paar kleinere Kundgebungen. War’s das wirklich?

BR-KLASSIK: Das hinterlässt Spuren?

Igor Levit: Ich kann es nur immer wieder sagen: Mit mir als Juden macht das etwas sehr, sehr Schlimmes. Aber mit mir als deutschem Staatsbürger macht das etwas nicht weniger Schlimmes. Denn dann möchte ich gerne allen zurufen: Eure Empathielosigkeit, euer Phlegma, eure Gemütlichkeit, vielleicht auch Faulheit, führt dazu, dass Menschen wie ich dieses Land verlassen müssen. Oder andere Minderheiten. Denn was hier von sehr vielen Seiten angezündet wird – von Rechtsextremisten, von radikalen Islamisten, von verqueren Teilen der Progressiv-Linken – ist ein Angriff auf eure Art zu leben.

Als es in Israel wegen einer teils rechtsextremen Regierung vor einem Jahr an die demokratischen Grundsätze ging – Stichwort Verfassungsgericht, da standen jedes Wochenende 200.000 Menschen auf der Straße. Das wären in Deutschland zweieinhalb Millionen. Und diese Kombination von Erschütterungen sowohl für mich als Juden als auch als Staatsbürger hat mein Verhältnis und mein Vertrauen zu dem, was Gesellschaft in Deutschland gerade ist, zwar nicht ganz, aber doch sehr zerstört.

IN ISRAEL GIBT ES KEIN "JA, ABER ..."

BR-KLASSIK: Im Kontrast hierzu hast du in Israel erst einmal eine umfassende Solidarität mit den Opfern, aber auch heftige Debatten erlebt. Denn Israel ist eine Demokratie. Du hast es gerade erwähnt, eine Demokratie, die gerade sehr aufgewühlt war, weil da die Regierung versuchte, bestimmte Grundsätze zu schleifen. Wie war die Diskussion jetzt in Israel?

Igor Levit: Ich habe in dieser kurzen Zeit mit verhältnismäßig vielen Menschen gesprochen. Viele waren Zeit ihres Lebens Linke, israelische, jüdische Aktivisten, Pazifisten, die bis vor Kurzem jede Woche auf der Straße waren und die auch bezüglich der Siedlungspolitik extrem kritisch gegenüber der Politik ihres Landes stehen. Und ich habe mit Menschen gesprochen, die in der Mitte stehen. Ich habe auch mit Menschen gesprochen, die konservativ sind. Das Gemeinsame ist: Man lässt sich erst einmal sein. Man gibt Raum für Trauer. Ich habe dort kein "Ja, aber …" erlebt. Ich habe unzählige Plakate gesehen mit Gesichtern der Entführten, an jeder Bank, an jeder Mauer, an Gebäuden, an Litfaßsäulen. Kein einziges Plakat war abgerissen. Ich brauche hier in Berlin nur aus dem Haus zu gehen und sehe ein paar Straßen weiter abgerissene Plakate mit Babyfotos. Wie verrottet muss eigentlich jemand im Kopf sein, um Fotos von kleinen, entführten Kindern von Bäumen zu reißen? Schämen sollten sich diese Menschen.

BR-KLASSIK: Gab es auch Kritik an der Militärführung?

Igor Levit: Auf Basis der Anerkennung dessen, was da am 7. Oktober passiert ist, nämlich der schlimmste Angriff auf Juden seit der Shoah, ein Massenmord an Juden auf israelischem Boden, wurden heftige Gespräche geführt. Da wird die Regierung heftig, aber auch mit viel Hintergrundwissen kritisiert – davon sind wir hier in Deutschland echt weit entfernt. Da wird der Premierminister wirklich durch den Fleischwolf gedreht und die Auseinandersetzung ist sehr emotional und sehr hart. Aber der Hauptfokus liegt auf diesem jetzt berühmt gewordenen Ausspruch "Bring them home". Aber mit Kritik wird dennoch nicht zimperlich umgegangen.

Mein Herz blutet, wenn ich an unschuldige Kinder und Opfer denke, die in Gaza fallen und sterben.
​ Igor Levit

BR-KLASSIK: Viele gerade aus dem linken Spektrum scheinen ja diesen Reflex haben, sich quasi mit dem mit dem Underdog zu identifizieren, und es kommt zu diesem Kurzschluss: Wenn ich mit palästinensischen Zivilisten solidarisch sein will, muss ich mich für die Hamas positionieren - obwohl die ja gerade diese Menschen diktatorisch unterdrückt.

Igor Levit: Da muss ich jetzt wirklich einhaken! Mein Herz blutet, wenn ich an unschuldige Kinder und Opfer denke, die in Gaza fallen und sterben. Das hat aber nichts zu tun mit meinem Thema, dem explodierenden Judenhass auf deutschen Straßen. Das sind zwar jetzt kontextualisiert zusammenhängende Themenbereiche, aber es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass Synagogen angegriffen werden, dass jüdische Schulen bedroht werden, dass Gemeinden so in Gefahr geraten, dass man keine Briefe mehr mit Klarnamen verschickt, dass jüdische Freunde von mir Essen nur noch unter einem Synonym bestellen – für das alles gibt es auf Boden eines freiheitlichen demokratischen Staates keine Rechtfertigung. Das, was im Nahen Osten passiert, ist ein anderer Themenbereich. Wir haben hier genug mit unserem eigenen Hass zu tun. Es muss möglich sein, über beides getrennt voneinander zu sprechen.

Igor Levit: auch in Kontakt mit muslimischen Freunden

BR-KLASSIK: Bist du in Kontakt mit Muslimen? Worüber redet ihr? Worüber streitet ihr, wie ist da die emotionale Dynamik?

Igor Levit: Die Emotionen sind sehr stark, aber ich habe das Glück, mit muslimischen Freundinnen und Freunden Kontakt zu haben, denen das, was ich gerade beschrieben habe, gelingt, ohne dass ich sie daran erinnern muss: Die Anerkennung des Horrors, der meinem Volk passiert ist und, basierend darauf, das Leid, das sie erleben, wenn sie an ihre Leute denken.

BR-KLASSIK: Und das sind ja in gewisser Weise dieselben Täter.

Igor Levit: Ja, es sind dieselben Täter. Ich habe glücklicherweise bis jetzt nicht erlebt, dass ich mit jemandem, den ich mag, in einer Auseinandersetzung war, die dazu geführt hat, dass man sich nicht mehr mochte. Mein engerer Freundeskreis hat Gott sei Dank gehalten - und das gilt auch für meine muslimischen Freundinnen und Freunde. Und das macht mich sehr froh.

BR-KLASSIK: Verändert das auch deine Identität als Musiker?

Igor Levit: Es verändert meine Identität, und das verändert mich. Und insofern verändert es mich auch als Musiker. Wie genau, das wird sich jetzt nach und nach herausstellen.

Igor Levits Solidaritätskonzert in Berlin

BR-KLASSIK: Du hast dich zu einem Solidaritätskonzert mit sehr unterschiedlichen Menschen zusammengefunden, das Ende November am Berliner Ensemble stattfindet. Ich glaube, es war gar nicht so leicht, dafür eine Heimat zu finden?

Igor Levit: Ich habe einige gefragt, aber niemand hatte Zeit. Aber glücklicherweise hat dann Oliver Reese, der Intendant des Berliner Ensemble, Ja gesagt. Und das Konzert war innerhalb von vier Minuten ausverkauft. Dieses Solidaritätskonzert, das wir "Gegen das Schweigen und gegen Antisemitismus" genannt haben, ist gleichzeitig auch ein Benefizkonzert für zwei wunderbare Organisationen, die sich um das Thema Antisemitismus kümmern. Und dieses Konzert wird nur das erste von sehr vielen sein.

Giovanni di Lorenzo von der ZEIT hat mich gefragt, ob ich mit dem Gedanken gespielt habe, Deutschland zu verlassen. Die Antwort war ja. Da hat er mich gefragt, warum ich es noch nicht gemacht habe. Und dann habe ich gesagt: Ich bin noch nicht so weit. Das bedeutet: Ich stehe gerade schon in einer gewissen Weise vor einem Scherbenhaufen. Aber das wird sich verändern. Ich werde mich sehr offen zeigen und mich mit Kolleginnen und Kollegen, die Gesicht zeigen, zusammentun. Und ich werde nicht wehrlos bleiben. Sei es in Form von Konzerten oder in Form von anderen Tätigkeiten. Die Wehrhaftigkeit habe ich ja nicht verloren, und es gibt wunderbare Menschen in diesem Land. Die sind solidarisch und empathisch.

Die glauben nicht nur an universelle Menschenrechte, sie erfüllen auch diesen Glauben mit Worten und Taten. Sie sind nicht wie einige, von denen ich so enttäuscht bin, die plötzlich ihr wahres Gesicht zeigen. Und darunter sind Musikerinnen und Musiker. Darunter sind Autorinnen und Autoren. Darunter sind natürlich Politikerinnen und Politiker. Darunter sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Und ich werde mich mit diesem zusammentun und auf verschiedenste Art Stimme erheben. Denn kampflos werde ich das Feld nicht überlassen.

Sendung: "Leporello" am 16. November 2023 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

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Sonntag, 26.November, 23:22 Uhr

Jochen Heinemann

Igor Levit

Danke für dieses wichtige Interview und die bewegenden Äußerungen von Igor Levit. Ich schäme mich dafür, was derzeit er und alle anderen Juden in Deutschland erdulden müssen.

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