Das Landestheater Niederbayern wagt sich zum ersten Mal an Alban Bergs unvollendete Zwölftonoper "Lulu" – ein Abenteuer! Am Passauer Stadttheater hatte die Neuproduktion jetzt mit einer umwerfenden Titelheldin Premiere.
Bildquelle: Landestheater Niederbayern
Wer ist diese Lulu? Eine Schlange, die "Urgestalt des Weibes", als die sie der Tierbändiger im Prolog von Alban Bergs Oper vorstellt? Das "verkörperte Lebensglück", das sich der Prinz von der Ehe mit ihr verspricht? Das "gewaltige Andante der Wollust", das der Komponist Alwa bei ihrem Anblick verspürt? Ein "Würgeengel", dem sich sein Vater, der Chefredakteur Dr. Schön, dennoch nicht entziehen kann? Oder die "Allzerstörerin", als die sie der Autor der Libretto-Vorlage, der Tragödien-Dichter Frank Wedekind, bezeichnet hat?
Natürlich kann auch der Regisseur der Neuproduktion des Landestheaters Niederbayern, Intendant Stefan Tilch, diese Frage mit seiner Inszenierung nicht beantworten. Auch bei Tilch ist Lulu eine Projektionsfläche für vorwiegend Männerfantasien, die sich hier allerdings auch in handfesten Aggressionsschüben entladen. Totgesagte leben bekanntlich länger: In Bergs hochexpressiven Zwischenspielen lässt Tilch die bereits verblichenen Verehrer Lulus wiederauferstehen, alle zerren an ihr, schlagen sie zuletzt – Lulu, die nicht weiß, wie ihr geschieht.
Ansonsten aber inszeniert Tilch weitgehend an Bergs Libretto entlang die Geschichte vom Aufstieg und Fall Lulus. Das britische Ausstatter-Duo Philip Ronald Daniels und Charles Cusick Smith hatte einen praktikablen Bühnenkasten in Ziegelstein-Optik entworfen, der auch Effekt machen wird, wenn die Produktion nach Landshut und Straubing wandert. Wenige Möbelstücke und Requisiten erlauben rasche Szenenwechsel. Lulu stecken die Kostümbildner nicht nur in ständig wechselnde, opulente Roben – sie zwängen sie auch immer wieder in lebensgroße Paper Dolls, Anziehpuppen zum Ausschneiden aus Papier, wie man sie aus nostalgischen Bilderbögen kennt.
Nah am Varieté: Peter Tilchs Inszenierung. | Bildquelle: Landestheater Niederbayern
Nah am Varieté ist Tilchs Inszenierung, im Stil der Zwanziger Jahre gehalten, die auch Berg vor Augen hatte, nicht ohne Komik, aber auch ein wenig harmlos. In dem Stück steckt doch mehr an Mystik, als es wohl der üppig wallende Bühnennebel suggerieren sollte, an Abgründigkeit, Brutalität und Tragik, wie vor allem Bergs Musik zeigt. Und die lag bei Generalmusikdirektor Basil H. E. Coleman in versierten Händen. Dass Bergs unvollendete Riesenpartitur überhaupt im kleinen Orchestergraben des Fürstbischöflichen Opernhauses gespielt werden kann, machte erst die reduzierte Orchesterfassung von Eberhard Kloke aus dem Jahr 2010 möglich. Zu Bergs Saxofon gesellen sich bei Kloke noch die aparten Klänge eines Akkordeons.
Die besten Momente hat die Niederbayerische Philharmonie in den lyrischen Passagen von Bergs ergreifend menschlicher Zwölftonmusik. Nach der Pause hat sich dann der Premieren-Überdruck mit seinen Phonstärken auch beim Sängerteam gelegt, was auch am elegischen Abwärtstaumel der musikdramaturgischen Entwicklung hin zum tödlichen Ende liegt. Es ist schon eine Leistung des Landestheaters Niederbayern, dass die meisten Rollen mit hauseigenen Kräften besetzt werden konnten.
Die Riesenpartie des zwielichtigen Dr. Schön bewältigt Peter Tilch, Bruder des Intendanten, mit seinem charakterstarken Bariton eindrucksvoll. Seinem haltlos schwärmerischen Sohn Alwa gibt der junge Edward Leach gleißend hellen tenoralen Glanz, Reinhild Buchmayer der lesbischen Gräfin Geschwitz mit dunklem Mezzo mitleiderregendes Profil. Und der verschlurfte Schigolch des Stefan Scholl rundet die imponierende Ensembleleistung ab.
Von ihr werden wir noch hören: Natasha Sallès als Lulu. | Bildquelle: Landestheater Niederbayern
Zur Sensation der Aufführung aber geriet die Besetzung der Titelpartie. Verzückt besingt Alwa Lulus "große Kinderaugen". Die brasilianische Koloratursopranistin Natasha Sallès hat sie. Und nicht nur das: Mit ihrem Pagenkopf und ihrem drahtigen Körper ist sie schon rein optisch die perfekte Lulu. Ob Sexobjekt oder Unschuldslamm, ob halbnackt oder in wechselnden Identitäten – Sallès macht immer Bella Figura. Vor allem stimmlich lässt sie keine Wünsche offen, mühelos schwingt sich ihr glasklarer Sopran zu stratosphärischen Höhen auf. Ein phänomenales Rollendebüt – von Natasha Sallès werden wir noch hören.
Sendung: "Allegro" am 28. April 2025 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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