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Max Raabe & Palast Orchester Harnoncourt für das Repertoire der 20er-Jahre

Schon als Kind hat Max Raabe den Hochzeitszylinder seines Vaters aufgesetzt und die Leute mit Songs der 20er- und 30er-Jahre unterhalten. Heute tourt er mit seinem Palast Orchester durch die ganze Welt. Besonders wichtig ist es dem Sänger, an die Personen und Schicksale zu erinnern, die hinter den Kompositionen und Arrangements seiner Lieder stecken.

Der Musiker Max Raabe am Rande eines dpa-Interviews am 31.07.2023 in Berlin | Bildquelle: © dpa-Bildfunk/Britta Pedersen

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"Meine Musik" mit Max Raabe

BR-KLASSIK: Max Raabe, was sind Sie ohne Orchester? Denn den meisten geht es ja immer in einem Rutsch runter: Max Raabe und das Palast Orchester.

Max Raabe: Ich habe ja auch einen Soloabend mit Christoph Israel. Aber ehrlich gesagt, die meiste Zeit verbringe ich auf der Bühne mit dem Palast Orchester. Wir haben im letzten Jahr 95 Konzerte gegeben, und mit Christoph Israel habe ich dann vielleicht mal zehn pro Jahr. Das Palast Orchester nimmt dann tatsächlich musikalisch und gedanklich den meisten Raum ein.

BR-KLASSIK: Dreizehn Musiker gehören zum Palast Orchester, wie kam denn eigentlich der Name zustande?

Max Raabe: Der Anlass war eigentlich, dass es früher lauter Tanzpaläste gab. Oder Kinopaläste. Es waren immer alles gleich "Paläste". Und es hat irgendwie, fand ich, was Glamouröses und stand für dieses Repertoire der Weimarer Republik. Die andere Idee war mal Vox-Orchester, entweder mit "V" oder mit "F", denn es gab das Voxhaus in Berlin, das war der erste Radiosender. Und Vox als Stimme. Aber wir haben uns dann für "Palast" entschieden, und das ist auch gut so.

BR-KLASSIK: Wo sucht man denn diese Originalarrangements, die Sie aufnehmen? Sind Sie denn jemand, der in den Archiven herumstöbert und seinen Spaß hat, tagelang sich dort zu verkriechen?

Max Raabe: So war es am Anfang. Inzwischen sind die Verlage viel besser aufgestellt. Es gibt Kataloge mit alphabetischen Reihenfolgen nur für Klavier oder nur für Orchester arrangiert. Und die kann man sich besorgen – man muss lediglich die Kopien bezahlen. Als wir mit dem Palast Orchester angefangen haben, war das relativ ungeordnet. Wir sind dann bei einem Verlag in den Keller gekrabbelt. Oder irgendwelche Notengeschäft hatten die noch. Das läuft dann unter SO-Arrangement: Salonorchester. Im Grunde haben wir das Material auf den Pulten liegen, was auch Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre bei den Kollegen damals auf den Pulten lag.

Harnoncourt für das Repertoire der 1920er-Jahre

BR-KLASSIK: Es überfällt einen schon ein gewisses nostalgisches Gefühl, wenn man Ihre Lieder hört: Man sieht ein Radio vor sich, den Lautsprecher mit Stoff bespannt und kleine Rillen hineingewebt. Ist das denn bei Ihnen auch noch so, wenn Sie die Musik hören? Oder hört dieses Gefühl einfach irgendwann auf?

Max Raabe und das Palastorchester | Bildquelle: picture-alliance/dpa Max Raabe und das Palast Orchester | Bildquelle: picture-alliance/dpa Max Raabe: 1929 klang eine Triole anders als 1938. Das muss man trennen. Wir sind sozusagen Harnoncourt für das Repertoire der 20er- und 30er-Jahre. Wir sind da sehr orthodox. Ich sag dann auch mal: ‚Vorsicht! Hier nicht swingen, die Nummer ist von 1931 – da geht das noch nicht!‘ Und das macht natürlich auch den Reiz aus. Wenn ein Stück irgendwie richtig abgeht, dann überträgt sich das sofort aufs Publikum. Und wenn wir so spielen, wie es authentisch mal gedacht war, kommt auch nach meinem Dafürhalten die Stärke der eigentlichen Bearbeitung am besten heraus. Ich meine, warum sollten wir nach Amerika gehen und den Leuten englische Titel vorspielen? Das können wir doch alles selbst. Aber wir spielen so, wie es dort in Amerika überhaupt eigentlich niemand mehr macht. Und dann sind wir auch noch aus Europa und aus Deutschland – das macht die ganze Sache vollkommen exotisch.

Und dann haben wir Humor … Damit rechnet in Amerika überhaupt niemand.
Max Raabe

BR-KLASSIK: Niemand rechnet damit, dass Deutsche Humor haben – oder es generell Humor in der Musik gibt?

Max Raabe: Ersteres. Und das hatten wir schon immer. Wir nehmen die Musik tatsächlich sehr ernst, aber uns selbst überhaupt nicht.

BR-KLASSIK: Das ist ja wahrscheinlich auch der Charme, derart hin- und hergerissen zu werden.

Max Raabe: Wenn es melancholische und traurige Stücke sind, ist man sofort eingefangen von der Melancholie. Nicht weil wir es betonen, sondern weil wir es einfach zart und zurückhaltend spielen. Und wenn etwas sehr komisch oder albern ist, dann drehen wir auch nicht am Rad.

Palast Orchester finanziert das Gesangsstudium

BR-KLASSIK: Sie sind studierter Opernsänger, Bariton.

Max Raabe: Ich habe früher immer schon in Chören gesungen. Erst in der Kantorei und dann gab es in der Schule eine lateinische Schola. Ich wurde immer als Tenor verwendet. Und ich dachte auch lange, ich sei Tenor. In Berlin wollte ich dann mal meine Stimme von einem Gesangslehrer beurteilen lassen. Und der sagte: Sie sind kein Tenor, sondern Bariton. Und da war mir klar, warum ich nicht ganz so hoch komme wie ein Tenor. Ich habe früher sehr gern auch Fischer-Dieskau gehört und dachte, ich könnte vielleicht mal Liedsänger werden. Mein Lehrer meinte dann: ‚Liedsänger kann man nicht werden. Man wird Opernsänger. Und dann hat man als Steckenpferd den Liedgesang. Das kann man dann gerne dazu machen.‘ Und dann habe ich gedacht – na gut, dann werde ich halt Opernsänger. Als Bariton ist man ja immer der beste Freund vom König oder man murkst den König ab … je nachdem, was gerade gefordert ist in der Literatur. Und das hat mir gefallen. Jetzt wissen wir natürlich, dass man, wenn man so begabt ist wie Christian Gerhaher, sehr wohl auch hauptsächlich als Liedsänger arbeiten kann. Er macht das genau so, wie ich es gerne getan hätte.

Aus mir wäre kein großer Opernsänger geworden.
Max Raabe

Ich habe dann während des Studiums quasi mit meinem Hobby, dem Palast Orchester, mein Studium finanzieren können. Und als dann während des Studiums klar wurde, dass wir einfach weitermachen können, war das natürlich ein großes Geschenk. Denn das habe ich eigentlich schon immer gern gemacht. Schon als Zwölfjähriger habe ich mir den Hochzeitszylinder des Vaters aufgesetzt und bei den Jahresfeiern der Messdiener oder der Pfadfinder irgendwas Lustiges aus den 20er-Jahren gesungen.

Mit Schellackplatten in eine andere musikalische Welt

BR-KLASSIK: Dann sind Sie ja sehr konsequent.

Max Raabe: Ja, das war schon immer so mein kleiner Spleen. Im Freundeskreis wurde auch viel Musik gemacht. Die Leuten fanden es irgendwie auch lustig. Aber ich habe natürlich auch andere Musik gehört und gut gefunden. Wir hatten eine Schellackplatte im Schrank, ein sehr lustiger schneller Titel, der durch das Vibrato der Trompeten und Saxofone für mich wie Hören durch ein Ofenrohr in einen Nachbarraum war, in dem eine andere Welt herrscht. Bei mir ist da die Fantasie losgegangen. Und dann habe ich habe mir auf einem Flohmarkt in Münster Schellackplatten gekauft. Die Texte fand ich anfangs fast ein bisschen verstörend, weil ich mich eher für die Instrumentalparts interessierte. Aber das lag vielleicht auch daran, dass ich anfangs die falschen Sänger erwischt habe. Später bin ich dann auf Leute gestoßen, die etwas geschmeidiger gesungen haben. Und so hat sich das alles gefügt.

BR-KLASSIK: Haben Sie heute noch Schellackplatten?

Ich habe einen riesigen Haufen Schellackplatten, aber höre sie gar nicht mehr. Was ja gut ist – so werden sie für die nächsten Generationen erhalten. Denn die werden ja nicht besser, wenn man sie aufs Grammophon legt. Zuhause höre ich tatsächlich sehr selten Musik. Und wenn, dann auch eher Klassik.

Eine Bühne für in der Nazi-Diktatur verfemte Künstler

BR-KLASSIK: Ein ganz bedeutender Teil Ihres Repertoires sind Lieder der 20er-Jahre und der beginnenden 30er-Jahre. Auf diese Zeit folgte dann, das wissen wir heute, der Nationalsozialismus. Und damit begann auch der Judenhass und die Deportation von Juden. Viele der Künstler und Komponisten, die Sie aufführen, waren davon betroffen, mussten fliehen oder wurden eben deportiert. Was glauben Sie, was das für eine Rolle spielt, dass wir heute wissen, was danach kam? Und was das für eine Rolle spielt, wenn wir Ihre Lieder hören?

Bariton-Treffen: Christian Gerhaher und Max Raabe stehen gemeinsam auf der Bühne. | Bildquelle: © Monique Wüstenhagen Der OPUS Klassik 2019 für Max Raabe | Bildquelle: © Monique Wüstenhagen Max Raabe: Wir wissen heute, was passiert ist nach 1933. Aber als die Komponisten und Texter, die dann vertrieben oder getötet wurden, das geschrieben haben, wussten Sie es ja nicht. Und wenn ich das auf die Bühne bringe, möchte ich, dass der Erfolg des Stückes an dem Abend nur an den Texten und nur an den Kompositionen liegt. Und dass die Leute an der Stelle lachen oder traurig sind, weil sich der Komponist oder Texter das weit vor 1933 ausgedacht hat: Um die Leute emotional zu berühren, gute Laune oder Melancholie mitzugeben. Und ich möchte sie für ihr Werk feiern lassen. Dass die Leute klatschen für das, was sie geschrieben haben – und nicht für das, was ihnen dann später widerfuhr.

BR-KLASSIK: Es ist ein wichtiger Unterschied, weil wir so dann wirklich eine Zeitreise machen.

Max Raabe: Absolut. Und ich erwähne natürlich die Komponisten. Ich sage, wer die Titel geschrieben hat, wer getextet hat. Weil eben beinahe der allergrößte Teil unseres Repertoires Namen sind, die die Nazis vergessen machen wollten. Und ich erwähne sie. Ich erwähne alle Namen, aber besonders wichtig ist mir, die Namen zu nennen, von denen ich weiß, dass sie ein schlimmes Schicksal hatten: Fritz Löhner-Beda zum Beispiel, der lustige Sachen geschrieben hat wie "In der Bar zum Krokodil" oder den Text zu "Dein ist mein ganzes Herz". Löhner-Beda hat überhaupt erst erkannt, welchen Ohrwurm irgendeine Zwischenmelodie von Franz Lehár hatte und ihm so eigentlich die Steigbügel für diesen großen Hit gehalten.

100 Jahre Radio – übers Radio zum Repertoire

BR-KLASSIK: Wir feiern in diesem Jahr auch 100 Jahre Radio. Spielte das Radio eine Rolle für die Verbreitung dieser Musik? Haben Sie da mal recherchiert? Sind die Stücke in den 20er-Jahren deshalb irgendwie kürzer oder besonders griffig geworden?

Max Raabe: Also, anfangs hat man im Radio nur live gespielt, mit einem Pianisten oder ganz kleinen Ensembles, denn die Studios waren ja gerade mal so groß wie ein Wohnzimmer und mit schweren Tüchern abgehängt. Später wurden dann allerdings auch Schellackplatte abgespielt und die Länge der Titel war etwas kürzer als abends im Tanzpalast. Die sind meistens kaum über drei Minuten hinausgegangen. Und diese Arrangements sind genau die Orchesterbearbeitungen, die wir immer noch auf die Bühne bringen. Und es ist interessant, sich dann eine Kapelle oder ein Orchester von damals anzuhören und zu erfahren: Was haben die für ein Tempo? Was haben die für eine Gestaltung? Wir können also mit demselben Orchestermaterial wie damals arbeiten.

BR-KLASSIK: Spielt denn Radio für Sie eine Rolle? Hat Sie das beeinflusst während Ihres Studiums? Oder hat es Ihren Zugang irgendwie erleichtert zu dieser Musik?

Max Raabe: Es gab früher einmal in der Woche eine Radiosendung bei uns in Westfalen. "Ein Plattensammler packt aus" mit Martin Wolgast. Das war dienstagabends. Da hatte ich allerdings Turnunterricht, und so musste ich meinen Bruder oder Vater bitten, auf die Aufnahmetaste vom Kassettenrekorder zu drücken. Aber ich bin eben auch übers Radio noch mehr in das Repertoire hineingetaucht. Heute habe ich zwar einen Rundfunkempfänger, aber ich höre dann eher mal im Auto Radio. Zuhause läuft tatsächlich wenig Musik. Sagen wir mal so: Ein Metzger kommt auch abends nach Hause und isst mal keine Wurst. Und so ist es bei mir auch. Ich habe immer Musik im Kopf.

Sagen wir mal so: Ein Metzger kommt auch abends nach Hause und isst erstmal keine Wurst.
Max Raabe übers Musikhören

BR-KLASSIK: Sie hätten mit Ihrem Studium auch an ein Opernhaus gehen können. Sie haben sich aber für ein anderes Leben entschieden. Und das ist ja eigentlich im Vergleich wahnsinnig anstrengend. Sie sind viel unterwegs.

Max Raabe: In den 90er-Jahren lief es plötzlich sehr gut, und wir haben gedacht: Na ja, das hält nicht lange, lass uns mal spielen. Irgendwann ist es vorbei. Dass es weiterging, haben wir dann irgendwann nach zehn Jahren erkannt und haben gesagt 200 Konzerte sind definitiv zu viel. Wenn wir so 80 oder 90 im Jahr spielen, ist das eigentlich eine ganz humane Packung. Außerdem ist es gut organisiert. Das Anstrengende ist eher das Drumherum, wie beispielsweise das Reisen. Und wir können machen, was wir wollen.

Gemeinsame Entscheidungen im Palast Orchester

Kein Mensch gibt uns irgendwelche Vorgaben. Und alles, was wir entscheiden, wird im Orchester gemeinsam entschieden. Denn es ist nicht MEIN Orchester. Wir wir sind eine Partnerschaft. Und wenn wir sagen, wollen wir mal nach Japan fahren, dann erwägen wir das Für und Wider – und dann wird abgestimmt. Und wenn die Mehrheit dagegen ist, fahren wir dort nicht hin. Glücklicherweise sind wir aber immer wir ziemlich experimentierfreudig. Wir haben uns gefunden, kennen unsere Macken, aber auch unsere Vorzüge und unsere Begabungen.

Sendung: "Meine Musik" am 28. Oktober 2023 um 11:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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