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Die Musik der Goldenen Zwanziger Wild, frei, vielfältig

Die Goldenen Zwanziger Jahre – eine Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs, eine Zeit der wilden Partys und eine Zeit kultureller Vielfalt. In kaum einem Jahrzehnt existieren so viele verschiedene Musikstile gleichberechtigt nebeneinander wie in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Schlager wie "Mein kleiner grüner Kaktus" der Comedian Harmonists stehen selbstbewusst neben Opern wie "Wozzeck" von Alban Berg. Eine scharfe Trennlinie zwischen E- und U-Musik ist häufig kaum möglich.

Themen "Der wilde Sound der 20er" | Bildquelle: © dpa | Montage: BR-KLASSIK

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Die Goldenen Zwanziger Jahre

Alles fängt an, als die Einführung der Rentenmark 1923 der Inflation der vorangegangenen Jahre Einhalt gebietet. Der nun folgende wirtschaftliche Aufschwung sorgt für eine Blütezeit von Wissenschaft, Kunst und Kultur. Es eröffnen unzählige Tanzlokale; Kinos, Kabaretts und Revues boomen, und rauschende Partys werden zum Symbolbild dieser Zeit, die allerdings schon wenige Jahre später mit der Weltwirtschaftskrise 1929 endet. Und "golden" ist diese Zeit längst nicht für alle: Während sich die Reichen lebensfroh auf exzessartigen Partys tummeln, rutschen andere Bevölkerungsschichten in Arbeitslosigkeit, Armut und Trostlosigkeit ab.

Programmschwerpunkt "Der wilde Sound der 20er"

Ähnlich wie heute war die Zeit vor 100 Jahren geprägt von technischen Neuerungen, Krieg und Umbruch, aber auch von Aufschwung und künstlerischem Aufbruch. Das ganze Jahr über widmet BR-KLASSIK deshalb sein Programm intensiv dieser Zeit - den Goldenen Zwanziger Jahren. Zahlreiche Formate, Sondersendungen und Konzerte bieten einen neuen Blickwinkel auf wichtige Themen dieser Zeit, die erstaunliche Parallelen zu unserer Gegenwart aufweisen. Einen Überblick über den Programmschwerpunkt finden Sie hier.

Schlager als bedeutendes Genre

Comedian Harmonists | Bildquelle: picture-alliance/dpa Schlager sind in den Goldenen 20er hoch im Kurs. Bis heute zählen die Schlager der Comedian Harmonists zu den bekanntesten Liedern unserer Zeit. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Ein bedeutendes Genre der Goldenen Zwanziger sind die sogenannten "Schlager": populäre, publikumsnahe, auf Kommerz bedachte Lieder. Sie finden nicht nur im Kabarett, sondern auch in der Operette, dem Film und dem Tanz weite Verbreitung. Doch so inflationär der Begriff für populäre Lieder dieser Zeit auch verwendet wird, so stark unterscheiden sie sich inhaltlich wie musikalisch voneinander. Gemeinsam haben sie meist nur die einfachen Texte und einprägsamen Melodien. Ein Konzept, das aufgeht: Wer kennt sie nicht, die Schlager der Comedian Harmonists – "Mein kleiner grüner Kaktus", "Veronika, der Lenz ist da" oder "Ein Freund, ein guter Freund"? Wie beliebt die Schlager zu dieser Zeit waren, zeigt sich aber auch darin, wie sich die Operette wandelt: Bereits um die Jahrhundertwende werden manche von ihnen, insbesondere von Komponisten der Berliner Operette wie Paul Lincke oder Victor Hollaender, sogar mit Blick darauf geschrieben, einzelne Lieder als Schlager herauslösen zu können. Aus Linckes Operette "Frau Luna" etwa entstehen so bald die beiden Schlager "Das macht die Berliner Luft" und "Schenk mir doch ein kleines bißchen Liebe".

Die Erfindung des Radios – Zeitenwende für Musikrezeption

Wichtigen Vorschub bei der Verbreitung der Schlager leisten vor allem die technischen Neuerungen dieser Zeit. Sie verändern die Musikrezeption grundlegend: Immer mehr Menschen leisten sich ein Grammophon – und kaufen dafür die auf 3-minütige Schellackplatten gepressten Schlager. Das neue Medium "Radio" bedeutet für die Musiknutzung eine Zeitenwende: Plötzlich konsumieren Zigtausende Musik. Der Bedarf an Darbietungen und Einspielungen ist riesig – es ist die Geburtsstunde zahlreicher Rundfunkensembles. Schnell wird mit ersten Liveübertragungen experimentiert.

Anfänge des Jazz in Europa

Während der Schlager schon vor dem Ersten Weltkrieg zum beliebten Genre wird, hält eine zweite Stilrichtung in Europa erst später Einzug: In den frühen 20er Jahren schwappt der Jazz aus den USA nach Europa über. Obwohl bis dahin nur wenige amerikanische Jazzbands in Europa aufgetreten waren, wird er schnell zur Modeerscheinung und flutet die Tanzlokale mitsamt ihren Salonorchestern. Zwar kommt dort oft nicht unbedingt "reiner" Jazz zur Aufführung – dem Publikum ist das allerdings einerlei, es geht vor allem um das Gefühl der Freiheit und um die Freude an besonders lebendiger und temperamentvoller Musik.

Weintraubs Syncopators - Jazz aus Deutschland

Eine der bekanntesten deutschen Jazzgruppen aus der Zeit der Weimarer Republik waren "Weintraubs Syncopators". Diese Gruppe formierte sich um den Schlagzeuger und Pianisten Stephan Weintraub und wurde so bekannt, dass sie auch als Begleitband der Tänzerin Josephine Baker auftrat und außerdem an zwanzig Spielfilmen beteiligt war. Doch nach 1933 hatte die Band in Deutschland Auftrittsverbot, schlug sich dann noch mit Auslandstourneen durch; der Leader Stephan Weintraub blieb 1937 mit anderen Kollegen nach einer Tournee in Australien – musste sich dort aber dann bis zu seinem Tod 1981 hauptsächlich als Mechaniker über Wasser halten. Bei Weintraubs Syncopators spielte eine Zeitlang auch der Komponist Friedrich Hollaender Klavier. Von der Band gibt es sehr stimmungsvolle Aufnahmen. Die Einflüsse des solistisch starken Chicago-Jazz waren bei ihr schon zu spüren.

Josephine Baker und der Charleston

Josephine Baker  | Bildquelle: picture-alliance/dpa Josephine Baker sorgt mit ihrem wilden Tanzstil Mitte der 1920er in Berlin und München für Furore. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Wie sehr das vormalig wilhelminische Deutschland nach dieser Zügellosigkeit und dem wilden Tanzvergnügen dürstet, zeigt sich unter anderem beim Auftritt Josephine Bakers 1926 in Berlin. Erst ein Jahr zuvor feierte sie in Paris ihr Bühnendebüt, jetzt tanzt sie auch in Deutschland halb nackt im Bananen-Röckchen zu wilder Jazzmusik. Das Publikum rast, und der bis dahin unbekannte Charleston wird einer der beliebtesten Tänze der Goldenen Zwanziger. In Bayern allerdings beobachtet man die Künstlerin mit Argwohn, ein Auftritt Bakers in München wenige Jahre wird später verboten.

Bessie Smith und die Race Records

Doch nicht nur in Tanzlokalen entwickelt sich in dieser Zeit Einiges im Jazz. Wichtige Blues- und Jazzhits etwa stammen aus dieser Zeit, darunter der "St. Louis Blues" von William Christopher Handy, dem "Father of the Blues", und auch die technischen Neuerungen der Plattenindustrie zeigen sich als äußerst gewinnbringend. In den USA etwa stehen die sogenannten "Race Records" hoch im Kurs, anfangs gedacht als Musik von Schwarzen für Schwarze. Doch auch Weiße begeistern sich für die Musik und ihre Künstlerinnen und Künstler, für Bessie Smith zum Beispiel. Sie wird mit ihrer ersten Platte zum ersten afroamerikanischen Superstar.

Vermischung von E- und U-Musik

Wie stark der Einfluss all dieser Neuerungen ist, zeigt sich bald auch in der ernsten, klassischen Musik. Während Arnold Schönberg gerade seine Zwölftontechnik entwickelt, wenden sich andere Komponisten vermehrt der Unterhaltungsmusik zu. Unter dem Schlagwort "Neue Sachlichkeit" versuchen sie, die verschiedenen Strömungen der Zeit zusammenzufassen. Eine Sachlichkeit, die sich dem als subjektiv wahrgenommenen Expressionismus entgegenstellt und die vermehrt auf alltagsnahe, dem Publikum bereits bekannte Elemente setzt – darunter insbesondere der aufkommende Jazz. In George Gershwins "Rhapsody in Blue" etwa vermischen sich Jazz und Klassik derart miteinander, dass eine Einordnung in Kategorien oder gar eine Trennung unmöglich ist.

BR-KLASSIK Dossier

Mit "Rhapsody in Blue" hat George Gershwin in den Goldenen Zwanzigern Musikgeschichte geschrieben – Jazz und klassische Musik verschmelzen. Doch bei wem swingt sie am meisten? Einen Interpretationsvergleich finden Sie hier. Außerdem ist die "Rhapsody in Blue" auch Teil des Edutainment-Projekts "Sounds of Babylon" mit der Dirigentin Erina Yashima und dem BRSO. Das Video zur "Rhapsody in Blue" sehen Sie hier.

Oper neu gedacht

Oper "Jonny spielt auf" | Bildquelle: picture alliance / akg-images | akg-images Die Oper "Jonny spielt auf" von Ernst Krenek setzt bewusst auf Strömungen der Zeit, insbesondere den Jazz und das neue Medium "Radio". | Bildquelle: picture alliance / akg-images | akg-images Selbst das Genre der Oper wird in dieser Zeit neu gedacht. In seiner Oper "Jonny spielt auf", einer sogenannten "Zeitoper", spielt Ernst Krenek bewusst mit den Elementen des Jazz und berücksichtigt die damals neuesten technischen Entwicklungen, indem er das Radio zum integralen Bestandteil seiner Aufführung macht. Auf die Spitze treibt es schließlich die Oper "Der Flug der Lindberghs" von Bertolt Brecht, Paul Hindemith und Kurt Weill. Eine Oper, die von vornherein dafür ausgelegt ist, nur übers Radio übertragen zu werden.

Die Dreigroschenoper

Wie sehr sich Kurt Weill und Bertolt Brecht von der traditionellen Oper und Operette entfernen, zeigt sich in ihrem wohl bekanntesten Werk, der "Dreigroschenoper". Dieses teilt nicht nur ironische Seitenhiebe gegen die traditionellen Formen der Oper aus, sondern  liefert selbst eine durchaus praktikable Alternative: Nicht Opernsängerinnen und -sänger übernehmen die Gesangspartien, sondern ungeschulte Schauspieler:innen. Statt Arien ertönt eine Mischung aus Songs, Jazz, Tanzmusik und dem Bänkelsängerlied, und im Orchester sitzen statt bis zu 100 Musiker:innen nur sieben, die Instrumente wechseln.

Operngesang aus Alltagssprache

Während die Oper auf der einen Seite an ihre Grenzen getrieben wird, bleibt auf der anderen Seite eine etwas traditionellere und dennoch innovative Strömung bestehen. Alban Berg etwa wendet sich einer ganz neuen Art des Operngesangs zu und kombiniert in seinem "Wozzeck" nicht nur expressives und volksliedhaftes Singen miteinander, sondern auch das reine Sprechen – eine Oper, die bei ihrer Uraufführung 1925 gleichermaßen für Entsetzen wie für Begeisterung sorgt. Ebenso Leoš Janáček, einer der heutzutage meistgespielten Opernkomponisten seiner Zeit. Er geht in seinen Opern, die sich teils durch bizarre Themen auszeichnen, sogar so weit, den Gesang wahrhaftig aus der Alltagssprache abzuleiten: Mit Notizblock und Stift verfolgt er Unterhaltungen der Menschen auf der Straße und zieht aus ihnen die Inspiration für seine Gesangslinien.

Die Musik der Goldenen Zwanziger: etwas Besonderes

Die Musik der Goldenen Zwanziger Jahre ist eine Musik, die keine Grenzen kennt, in der Ernste und Unterhaltungsmusik miteinander verschwimmen, in der das Vergnügen, der Tanz, die Lebenslust eine wichtige Rolle spielen, eund vor allem: die Lust am Experimentieren. Gerade das macht sie zu etwas so Besonderem.

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