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Dirigent Thomas Hengelbrock im Interview "Brahms ist das Schwerste"

Ursprünglich sollte Herbert Blomstedt den Brahms-Zyklus beim BRSO dirigeren. Nachdem er krankheitsbedingt absagen musste, springt Thomas Hengelbrock für ihn ein. BR-KLASSIK überträgt das Konzert am 12. Januar live im Radio. Im Interview erzählt Hengelbrock, warum Brahms' Partituren fü ihn besonders reizvoll sind.

Thomas Hengelbrock | Bildquelle: Mina Esfandiari

Bildquelle: Mina Esfandiari

"Brahms ist das Schwerste"

Interview mit Thomas Hengelbrock

BR-KLASSIK: Herr Hengelbrock, von Johannes Brahms gibt es die nette Beschreibung, seine 1. Sinfonie sei nicht gerade liebenswürdig, über die 2. Sinfonie hat er wahrscheinlich etwas ironisch geschrieben, sie müsse "mit Trauerrand erscheinen", und als der Musikkritiker Eduard Hanslick, eigentlich ein großer Fan von Brahms, die 4. Sinfonie an zwei Klavieren vorgespielt bekommen hat, sagte er, er fühle sich wie "von zwei furchtbar gescheiten Menschen durchgeprügelt". Macht es eigentlich Spaß, Brahms zu dirigieren?

Thomas Hengelbrock: Es gibt fast keinen Komponisten, der mehr Spaß macht als Brahms. Brahms hat natürlich für den Geist, für den Intellekt geschrieben, aber auch sehr für das Gemüt, für den Bauch.

BR-KLASSIK: Interessanter Punkt: Man denkt, wenn irgendetwas besonders schlau gemacht ist, könne es nicht so gefühlvoll sein. Brahms ist der Beweis für das Gegenteil.

Thomas Hengelbrock: Ganz genau. Ich glaube, dass alle großen Komponisten Beweis für das Gegenteil sind. Es gibt keine wirklich große Kunst, die komplett, einfach und eindimensional ist. Das Geheimnis von großer Kunst ist auch die Mehrschichtigkeit, die Mehrdeutbarkeit. Sie können in strahlendem C-Dur die größte Traurigkeit ausdrücken, wie Franz Schubert das beispielsweise in seinem C-Dur-Streichquintett macht.

Es gibt fast keinen Komponisten, der mehr Spaß macht als Brahms.
Dirigent Thomas Hengelbrock

BR-KLASSIK: Das lässt den Interpreten natürlich auch so ein bisschen hilflos dastehen, denn er muss sich für eine Deutung entscheiden, sonst wird es auf keinen Fall was. Aber gleichzeitig weiß er, dass tausend andere Möglichkeiten auch offen stünden.

Thomas Hengelbrock: Wenn ich die Partituren von Brahms mit denen seiner Zeitgenossen vergleiche, also von Franz Liszt, auch frühere Partituren von Hector Berlioz, von Richard Wagner, aber auch dem späten Robert Schumann oder dem späten Felix Mendelssohn, da muss ich sagen: Brahms ist das Schwerste. Es ist wirklich komplex. Seine Musik ist unglaublich dicht verzahnt, dicht verfugt. Man hat das Gefühl, dass Brahms aus der gesamten Musikgeschichte schöpft. Und ich glaube, dass eine Brahms-Interpretation sehr viel Erfahrung braucht.

BR-KLASSIK: Was haben Sie früher falsch gemacht?

Thomas Hengelbrock: Wir sind alle auf dem Weg. Ich bin ja verglichen mit den großen alten Dirigenten unserer Zeit noch ein junger Spund, und ich hoffe, dass ich noch viele Jahre habe, den Erkenntnisvorrat zu vergrößern. Aber es ist tatsächlich so, dass ich jetzt glaube, Brahms besser zu verstehen. Ich kann die kompositorischen Prozesse, auch seine Skrupel, besser nachvollziehen. Und ein so komplexes Werk wie der erste Satz der 1. Sinfonie darf eben nicht nur einfach mit Schmackes und Schwung gespielt werden. Man muss auch das ganze reiche Beziehungsgeflecht der einzelnen Stimmen freilegen.

BR-KLASSIK: Transparenz ist also eines Ihrer Ziele. Muss man diese Dinge einmal falsch gemacht haben, um sie später richtig zu machen? Christian Thielemann sagt, man müsse sich "die Hörner abstoßen", man müsse als junger Dirigent Fehler machen, damit man es später besser machen kann.

Thomas Hengelbrock: Oh, das ist ganz wichtig. Wir machen alle Fehler, ununterbrochen. Das geht gar nicht anders. Ich glaube, je offener man mit sich selber umgeht, desto weiter kommt man. Es macht überhaupt keinen Sinn, mit einer vorgefassten Meinung vor einem Orchester zu stehen und dann sklavisch daran festzuhalten. Ich habe die glückliche Situation, jetzt bei einem so fantastischen Orchester wie dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einspringen zu dürfen. Das ist eine unglaubliche Inspiration. Auch das, was die Musiker anbieten. Sie haben einen großen Erfahrungsschatz, eine große Brahms-Tradition. Daran anknüpfen zu können, dann aber auch das Schiff ein bisschen auf einen anderen Kurs zu lenken, ist eine Herausforderung und eine große Freude.

BR-KLASSIK: Sie sind ja ein Fan der historischen Aufführungspraxis, aber das Symphonieorchester kommt aus der großen, voll klingenden, wohltönenden, romantischen Spieltradition. Oder romantisierenden, könnte man auch sagen, weil es ja zu Brahms' Zeiten anders geklungen hat. Brahms mochte beispielsweise nicht das Ventilhorn, sondern das altmodische Naturhorn. Wieviel von diesen Ideen der historischen Aufführungspraxis können Sie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks verwirklichen?

Dirigent Thomas Hengelbrock | Bildquelle: picture alliance / dpa Thomas Hengelbrock dirigiert im Januar 2024 das BRSO in München. | Bildquelle: picture alliance / dpa Thomas Hengelbrock: Ich muss dazu sagen, dass ich dieses Vokabular gar nicht mehr so schätze. Wir haben vor vielen Jahren, eigentlich Jahrzehnten, natürlich alle angefangen, mit diesen Begriffen "historische Aufführungspraxis" und "authentisch" zu operieren. Mittlerweile ist das für mich vollkommen obsolet. Die Beschäftigung mit einem Komponisten setzt voraus, dass man sich mit ihm und seiner Zeit, seinen Gedanken und seinem künstlerischen Wollen auseinandersetzt. Und dass man natürlich auch die Detailfragen, die dann auftauchen, im Kontext seiner Zeit zu lösen versucht. Wie war die Balance? Wie sind die Stimmensysteme? Wie sind die Intonationssysteme? Was passiert, wenn ein Horn, eine Oboe und eine Geige unisono spielen? Was ist damit beabsichtigt? Will der Komponist durch die Kombination von traditionellen Instrumenten ein neues Instrument schaffen, wie Wagner das mal beschrieben hat? Es gibt sehr viele Fragen, auf die man tatsächlich erst eine Antwort bekommt, wenn man Brahms mit dem Instrumentarium seiner Zeit gespielt hat. Das heißt aber nicht, dass ich mit einem modernen Orchester wie dem BRSO jetzt versuche, sklavisch irgendetwas nachzumachen, einem Klang hinterher zu haschen. Ich versuche, die Musiker dazu zu animieren, wirklich mit Herz und Sinn zu spielen. Sie müssen sich auch disziplinieren, sich zurücknehmen, wenn andere Stimmen wichtiger sind. Und sie müssen sehr, sehr gut zuhören.

Ich versuche nicht, sklavisch einem Klang hinterher zu haschen.
Dirigent Thomas Hengelbrock

BR-KLASSIK: Dürfen sie so viel Vibrato machen, wie ohne Ihre Anleitung rauskommen würde?

Thomas Hengelbrock: Es gibt Stellen, wo ich einen ganz bestimmten Klang möchte. Dafür finde ich dann eine poetische oder impressionistische Beschreibung - und danach vibriert gar keiner mehr. Ich versuche, sehr viel in Bildern zu arbeiten. Weniger mit technischen Anweisungen, so nach dem Motto: "Da darf man und da darf man nicht". Sonst sind wir ganz schnell bei einer Art Verbotspolitik. Das ist das Hinderlichste beim Musizieren, was es gibt.

BR-KLASSIK: Der Dirigent als Verkehrspolizist, das ist nicht die Methode Hengelbrock. Sie haben gerade von den Instrumentenkombinationen gesprochen. Brahms ist eigentlich ein Klangzauberer. Was das für einen unglaublichen Effekt hat, wenn er ein Kontrafagott einsetzt! Oder wenn er die Streichinstrumente leere Seite und vierten Finger abwechselnd spielen lässt. Das ist ein Flirren und eine Sinnlichkeit, die kaum ein anderer Komponist hat.

Thomas Hengelbrock: Brahms hat sehr lange um die Technik des Instrumentierens gerungen. Er war ein ungeheuer fleißiger Mensch. Es gibt fast niemanden, der so gearbeitet hat wie Brahms, der so ausschließlich sein Leben in den Dienst der Musik gestellt hat. Brahms war getrieben von einer inneren Idee, das alte Handwerk des Komponierens auf einen neuen Höhepunkt zu führen.

Brahms-Zyklus mit dem BRSO

Thomas Hengelbrock dirigiert am 11., 12. und 13. Januar das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit den Sinfonien Nr. 1 und Nr. 2 von Johannes Brahms. Der zweite Teil des Brahms-Zyklus mit den Sinfonien Nr. 3 und Nr. 4 findet am 18. und 19. Januar statt. Die Leitung hat die australische Dirigentin Simone Young, die auch bei den Bayreuther festspielen als erste Frau Wagners "Ring" dirigiert.
Weitere Informationen zu den Konzerten finden Sie auf der Website des BRSO.

BR-KLASSIK: Jetzt springen Sie für Herbert Blomstedt ein, der leider verletzt ist, aber wohlauf und auch Anteil nimmt an Ihrer Probenarbeit. Was bedeutet Ihnen die Freundschaft zu Herbert Blomstedt?

Thomas Hengelbrock: Wir sind nicht befreundet, aber wir kennen uns aus der Ferne und ich verehre ihn sehr. Herbert Blomstedt ist in gewisser Weise ein Vorbild, weil er es seit Jahrzehnten schafft, der Musik ihre große Freiheit zu lassen. Wenn Herbert Blomstedt eine Probe leitet oder zum Konzert kommt, dann herrscht ein Frieden und eine Freude für die Musik, eine Konzentration auf das, was man da macht, und eine uneitle Hingabe an das, was man macht. Alle Musiker, mit denen ich spreche, lieben ihn. Alle Orchester reißen sich um ihn. Er hat eine wunderbare Generosität, menschlich und musikalisch. Das ist etwas, von dem ich mir vieles abgucken kann.

Ich verehre Herbert Blomstedt sehr.
Dirigent Thomas Hengelbrock

BR-KLASSIK: Träumen Sie auch davon, mit Mitte 90 noch aktiv zu sein wie Herbert Blomstedt?

Thomas Hengelbrock: Also, meine Großmutter hat mit 82 Jahren wieder angefangen, in ihrem angestammten Beruf zu arbeiten, weil es ihr vorher ein bisschen zu langweilig war. Sie hat dann gearbeitet, bis sie 99 war und an allem wirklich teilgenommen, bis sie mit 104 Jahren verstarb. Ich bin dankbar, schon bis jetzt so gut und glücklich und mit so viel "Fortune" durchs Leben gekommen zu sein, dass ich da natürlich Hoffnung habe. Aber keinen Anspruch.

BR-KLASSIK: Es gibt ja eigentlich keinen anderen Musikberuf, in dem man in so hohem Alter noch so große Leistungen vollbringen kann und auch so nachgefragt wird. Pianisten müssen spätestens mit 80 aufhören. Martha Argerich ist über 80, aber auch eine Ausnahme. Für Geiger ist meist mit 70 Schluss, weil einfach der Bogen flattert. Und bei Sängerinnen und Sängern noch früher, gar nicht zu reden vom Ballett, wo Tänzerinnen und Tänzer oft mit Mitte 30 schon aufhören müssen. Da haben Sie sich einen guten Beruf ausgesucht.

Thomas Hengelbrock | Bildquelle: © F. Grandidier Thomas Hengelbrock ist 65 Jahre alt - und hofft, noch lange am Dirigierpult zu stehen. | Bildquelle: © F. Grandidier Thomas Hengelbrock: Ich finde es eigentlich schade, dass es gesellschaftlich nicht gern gesehen beziehungsweise auch verboten wird, bis ins hohe Alter weiterzuarbeiten. Es gibt sehr viele Berufe, in denen man erst ab Mitte 60 oder auch ab 70 – vorausgesetzt, man bleibt gesund – die nötige Lebenserfahrung und vielleicht auch die Gelassenheit mitbringt, etwas zu bewegen. Denken Sie ans alte Athen, wo die Menschen 70 Jahre alt sein mussten, ihre ganzen Geschäfte erfolgreich abgeschlossen haben mussten, bevor sie in die Politik wechseln durften. Wenn wir von weisen klugen Männern und Frauen regiert würden, ich sage das nicht nur auf Deutschland bezogen, sondern ganz allgemein, dann wäre viel gewonnen. Wenn wir die Weisheit, die Erfahrung und auch die Gelassenheit, die das Alter vielen Menschen bringt, gesellschaftlich besser nutzen würden.

BR-KLASSIK: Herr Hengelbrock, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Am 12. Januar 2024 ab 20:05 Uhr überträgt BR-KLASSIK das Konzert des BRSO unter Thomas Hengelbrock live aus dem Münchner Herkulessaal.

Kommentare (1)

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Sonntag, 14.Januar, 15:18 Uhr

Rudolf Keth

Interview T. Hengelbrock

Sehr gutes und lnteressantes Interview. Ein ganz erfahrener und demütiger und für mich sehr lehrreicher Dirigent

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