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Sir Simon Rattle im Gespräch Mehr als nur Dirigent

Es ist soweit. Vor über zwei Jahren wurde der Vertrag unterzeichnet, jetzt ist er endlich da. Am Donnerstag steht Sir Simon Rattle erstmals als Chefdirigent am Pult des BR-Symphonieorchesters. Vorab haben wir ihn zum Gespräch getroffen – und sind einem Mann begegnet, der in München deutlich mehr vor hat, als nur zu dirigieren.

Simon Rattle (r.) im Gespräch mit Bernhard Neuhoff | Bildquelle: BR

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BR-KLASSIK: Sir Simon, was ist ein Chefdirigent?

Simon Rattle: Uff (lacht). Das stößt doch schon sehr philosophische Türen auf, oder? Was müssen wir tun? Wild gestikulieren wie Jürgen Klopp? Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist es mehr, als nur ein Dirigent zu sein.

Eine Frage der Verantwortung

BR-KLASSIK: Nämlich? Was unterscheidet ihn von einem Gastdirigenten?

Simon Rattle: Ich denke, es ist die Verantwortung, die man für den ganzen Laden trägt. In erster Linie geht es darum, eine Situation zu schaffen, in der alle ihr Bestes geben. Meine Idee, was ein Dirigent sein könnte, rührt von einem Erlebnis in meiner Jugend, als ich als 15-Jähriger in Liverpool das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Rafael Kubelik gehört habe. Da war dieses Vertrauen, dieser gemeinsame Wissensfundus, diese einzigartige Kombination aus Kommunikation und Großzügigkeit.

Und darüber hinaus gibt es in einer so großen Institution wie dem Rundfunk immer auch Dinge, um die man kämpfen muss. Etwa darum, dass Musik mindestens genauso wichtig ist, wie es die Nachrichten sind. Aber vielleicht sage ich jetzt auch etwas Kompromittierendes, wer weiß (lacht). In Großbritannien bei der BBC haben wir das jedenfalls gerade durchgemacht

BR-KLASSIK: … und Sie waren erfolgreich …

Simon Rattle: … ja, und es war wirklich bewegend zu sehen, wie viel Protest es gab gegen die Auflösung der BBC Singers und die Kürzungen bei den anderen Rundfunkorchestern. Das war ein Schock – im positiven Sinn. Man merkt dann erst, wie viele Menschen an diesen Ensembles hängen.

Rattle über die Situation der Rundfunkorchester

BR-KLASSIK: In Österreich gab es eine ähnliche Diskussion. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien sollte abgeschafft werden und wird nun doch erhalten bleiben. Man kann also etwas bewirken!

Simon Rattle im Werksviertel in München 2022 | Bildquelle: picture alliance/dpa | Sven Hoppe Rattle bei einer Kundgebung für das neue Konzerthaus | Bildquelle: picture alliance/dpa | Sven Hoppe Simon Rattle: Zum Glück, ja. Und vielleicht hat es ja auch sein Positives, dass die Leute jetzt mehr darüber nachdenken, was sie an diesen Orchestern haben – sie also nicht mehr für selbstverständlich nehmen. Ich habe auch mit der Führung der BBC darüber gesprochen. Die wünschen sich jetzt sogar, dass die Orchester sichtbarer werden. Und so sollte es auch hier sein. Wir sind schließlich Teil des Rundfunks, wir sollten viel mehr Filme mit dem Orchester machen. Wir sollten mehr in die Schulen gehen oder Klassen einladen, uns zuzusehen. Nicht bei Konzerten, sondern bei den Proben, bei der Arbeit, die wir machen. Damit sie lernen, dass auch wir nur Menschen sind, die etwas zusammen machen.

Es wäre natürlich extrem hilfreich, wenn es dafür auch einen Ort gäbe. Um das Potential dieses Orchesters auszuschöpfen, bräuchten wir einen eigenen Raum. Ich glaube, wir sind das einzige Orchester der Welt, das in der eigenen Stadt auf Tour gehen muss. Das ist schon eine bemerkenswerte Situation, an die man sich mit der Zeit wohl gewöhnt hat. Irgendwie funktioniert es ja.

Rattle zum Konzerthaus

BR-KLASSIK: Es gäbe ja einen Plan zur Lösung dieses Problems: das neue Konzerthaus im Werkviertel. Markus Söder hat diesen Plänen allerdings eine "Denkpause" verordnet. Werden Sie mit dem amtierenden und wahrscheinlich auch künftigen Ministerpräsidenten darüber sprechen?

Simon Rattle: Liebend gerne! Ich warte nur darauf, dass sich die Möglichkeit ergibt. Wir haben bis jetzt nur einmal gesprochen. Und das ist auch schon 18 Monate her ...

BR-KLASSIK: Wussten Sie, dass in der Bayerischen Verfassung steht, dass Bayern ein Kulturstaat ist?

Simon Rattle: Aha. Gut zu wissen. (Rattle zögert)

Es ist natürlich schön, dass das Land die Kultur unterstützt; dass es auch gar keinen Dissens darüber gibt, dass Kultur wichtig ist. Das ist wirklich toll! Ich glaube aber, dass es niemandem schaden würde, der Sache ein bisschen mehr Dringlichkeit zu geben. Zumindest ist es aus der Distanz ein wenig irritierend, wie sehr man die Dinge hier verschleppt. Für jemanden, der aus einem anderen Land kommt, ist das kaum zu glauben.

Wer war vor Rattle?

Über 70 Jahre ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks jetzt alt. Und es gibt eine Hand voll Dirigenten, die das Orchester im Lauf dieser Jahre geprägt haben. Hier stellen wir sie vor.

BR-KLASSIK: Wir haben jetzt über die politische Verantwortung gesprochen, die Sie als Chefdirigent für ihr Ensemble haben. Aber natürlich sind sie vor allem auch in künstlerischer Hinsicht verantwortlich für das Orchester. Wie weit wollen Sie dabei gehen? Haben Sie eine eigene Klangvision für das Symphonieorchester?

Simon Rattle: Diese großen Orchester – und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist eines der besten der Welt – sind wie riesige Schiffe. Es ist also nicht so ratsam, sie wie ein Kanu zu behandeln. Veränderungen brauchen Zeit. Aber es ist schon interessant, wie flexibel das Orchester in seiner jetzt 75-jährigen Geschichte geworden ist. Weil es so unterschiedliches Repertoire gespielt hat. Weil ihm erlaubt wurde, in immer wieder neue Richtungen die Fühler auszustrecken.

Veränderungen brauchen Zeit.
Simon Rattle über die Orchesterarbeit

Was ich an Mariss Jansons so geschätzt habe, war seine Konzilianz gegenüber Gästen am Pult. Auch oder gerade dann, wenn er nicht so überzeugt davon war, wie oder was die Kollegen dirigiert haben. Er dachte immer im Sinne der stilistischen Bandbreite und der Farbpalette für sein Orchester. Und so will auch ich es halten: Wenn sich das Orchester wirklich jemanden wünscht, unterstütze ich das, auch wenn es jemand ist, mit dessen oder deren Philosophie ich nichts anfangen kann – und da gibt es schon ein paar (schmunzelt).

BR-KLASSIK: Sind Sie auch schon ein bisschen verliebt in München?

Simon Rattle: Ich lerne es gerade besser kennen. Niemand würde behaupten, es gebe das eine Deutschland. Aber ich finde, es gibt fast nichts, das unterschiedlicher sein könnte als München und Berlin. Es gibt natürlich auch Unterschiede zwischen Liverpool, wo ich aufgewachsen bin, und dem Süden Englands, wo ich später gewohnt habe. Aber es war nichts so extrem wie München und Berlin. Ich glaube, hier rumort so vieles unter der Oberfläche, das man erst langsam entdecken muss. Darauf freue ich mich sehr.

BR-KLASSIK: Und haben Sie schon ein Lieblingsessen hier gefunden?

Simon Rattle: Sagen wir mal so (windet sich): Bisher habe ich in München eher nur Italienisch und Japanisch gegessen (lacht).

Ein Start mit Haydn

BR-KLASSIK: Simon Rattle, Sie beginnen Ihr Engagement in München mit Haydns "Schöpfung". Eine Schöpfung kann nur entstehen, wenn vorher Chaos war. Was haben Sie für eine Beziehung zum Chaos?

Simon Rattle: Ich finde, Haydns "Vorstellung des Chaos" zu Beginn der "Schöpfung" ist sowas wie die Vertonung der Urknall-Theorie, obwohl es die zu Haydns Zeit noch gar nicht gab. Aber diese Musik wirkt auf mich so unglaublich modern und im besten Sinn verstörend. Und natürlich habe ich das Stück auch gewählt, weil es einen symbolischen Wert hat. Aber ich will gar nicht auf dem Wort "Schöpfung" beharren, als ob ich etwas Neues in die Welt setzen würde. Ich denke eher im Sinne einer Weiterführung. Und ich habe das Stück auch deshalb gewählt, weil es die "Schöpfung" wäre, die ich auf die vielzitierte einsame Insel mitnehmen würde.

BR-KLASSIK: Warum?

Simon Rattle: Ich erinnere mich, als ich mal mit Frans Brüggen genau darüber gesprochen habe und er meinte: Aber was machen wir nur mit Bach? (lacht) Und ich sagte, naja, vielleicht passt die Matthäuspassion und ein paar Kantaten noch in einen kleinen Koffer oder so. Aber ernsthaft: Die "Schöpfung" ist ein Stück, das Orchester wie Chor fordert und strahlen lässt. Deutsches Repertoire. Und dann noch ein Werk, das wunderbar zum Herkulessaal passt. So viele Stücke waren für den Auftakt im Gespräch. Aber bei Haydn haben wirklich alle sofort "Ja" gesagt.

Sendung: "Allegro" am 19. September ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Mittwoch, 20.September, 17:04 Uhr

Beate Schwärzler

"Die Schöpfung" von Joseph Haydn zum Auftakt

Ja. Ich würde auch die "Schöpfung" mitnehmen auf die Insel.
Mit dieser Besetzung. Und nun: Stille sein bis Freitag.

Hm. Ich habe nachgerechnet:
+32 +8 +3. Hm.

Danke, Sir Simon Rattle.

Dienstag, 19.September, 23:36 Uhr

P.S.

Glück auf, Herr Rattle

Sehr schöne Wahl für das Eröffnungskonzert. Es freut mich, dass Rattle explizit ein Werk aus dem deutschen Repertoire ausgewählt hat, dessen Pflege in den letzten Jahren doch etwas im Argen lag.

Ich wünsche ein gelungenes, störungsfrei verlaufendes (heute keine Selbstverständlichkeit mehr) Konzert und eine segensreiche Ära Rattle.

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