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Der wilde Sound der 20er

Ruhrbesetzung 1923 Widerstand mit Beethovens "Eroica"

"Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes" – so verurteilt die deutsche Regierung 1923 den Einmarsch französischer und belgischer Truppen im Ruhrgebiet. Und ruft zu "moralischem Widerstand" auf. Musikalisch geschieht das mit patriotischen Liedern und deutschem Repertoire im Konzertsaal.

Menschen singen bei Protestkundgebung in Berlin | Bildquelle: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Bildquelle: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

14.01.1923 - Nationaler Trauertag

Protest gegen die Besetzung des Ruhrgebiets

14. Januar 1923. "Nationaler Trauertag" in Deutschland, kurz entschlossen ausgerufen von der Reichsregierung. Als Protest gegen die Besetzung des Ruhrgebiets. In Berlin läuten die Glocken des Doms. Auch die Kultur soll ihren Beitrag leisten: Bälle, Tanz und andere Lustbarkeiten sind an diesem Tag verboten, ebenso Kino- und Theateraufführungen, "sofern nicht der ernste Charakter der Veranstaltung gewahrt ist". Statt eines "Possenabends Alt-Berlin" gibt das Alte Schauspielhaus also Schillers "Kabale und Liebe", die Volksoper spielt Wagners "Lohengrin", die Berliner Philharmoniker ein Sonderkonzert in der alten Philharmonie.

Januar 1923: Einmarsch französischer Truppen ins Ruhrgebiet

Das Neue Jahr ist erst wenige Tage alt, und doch zeichnet sich jetzt schon ab: Das wird für die Deutschen kein leichtes Jahr. Kurz zuvor hatten französische und belgische Truppen damit begonnen, das Ruhrgebiet zu besetzen, weil Deutschland seinen Reparationsforderungen nicht nachkommt und somit den Versailler Friedensvertrag nicht erfüllt. Frankreich sieht legitime Interessen missachtet. Die deutsche Regierung hingegen verurteilt das Vorgehen, sieht darin eine "Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes" und ruft zu "moralischem" Widerstand auf.

Klicktipp

Im Rahmen des Programmschwerpunktes "Der wilde Sound der 20er" veröffentlicht BR-KLASSIK exklusiv Auszüge aus dem Buch "Im Taumel der Zwanziger – Musik in einem Jahr der Extreme" von Tobias Bleek, erschienen bei Bärenreiter/Metzler. Teile des Kapitels "Musik in Zeiten der Ruhrbesetzung" können Sie hier lesen.

Protestauftakt in Essen und "Die Wacht am Rhein"

Zu einer spontan einberufenen Protestveranstaltung in Essen am Vorabend des angekündigten Truppeneinmarsches strömen zehntausend Menschen zum repräsentativen Konzerthaus der Stadt, welches die Menge gar nicht fassen kann. Tausende müssen auf der Straße bleiben. Geschlossenheit über politische Grenzen hinweg, Reden von Vertretern fast aller Partei und kollektive Selbstvergewisserung beim Singen: Schon vor Veranstaltungsbeginn erklingt die "Wacht am Rhein", ein Lied, das den deutschen Anspruch auf die Gebiete links des Rheins formuliert. Vaterländischer Kampfgesang schon während des Deutsch-Französischen Kriegs und im Ersten Weltkrieg. Im offiziellen Teil wird die Nationalhymne gesungen, stehend, mit Orgelbegleitung.

Hunderttausende singen bei zentraler Protestkundgebung in Berlin

Lieder, die auch in Berlin am Vormittag des "nationalen Trauertags" für Geschlossenheit sorgen. Hunderttausend Menschen kommen vor dem Reichstag zu einer Protestkundgebung zusammen, Zeitungen berichten gar von einer halben Million. Der Ablauf ist wie in Essen wenige Tage zuvor: Reden, der Aufruf zum passiven Widerstand, tosender Jubel und gemeinsames Singen. Wieder vor und nach dem offiziellen Teil "Die Wacht am Rhein" und manch anderes vaterländisches Lied, dazu Religiöses, "Ein feste Burg ist unser Gott", und auf dem Höhepunkt der Kundgebung die Nationalhymne. "Hunderttausende haben entblößten Hauptes alle Verse gesungen", wie tags darauf in der Zeitung zu lesen ist.

Der wilde Sound der 20er

Wissenswertes rund um die Musik der 1920er Jahre, Edutainment-Videos zu Schlüsselwerken und Musik der Epoche finden Sie hier im BR-KLASSIK-Dossier

Sonderkonzert: Furtwängler dirigiert Beethovens "Eroica"

Programmzettel des Sonderkonzerts der Belriner Philharmoniker am 14. Januar 1923 | Bildquelle: Archiv Berliner Philharmoniker Programmzettel des Sonderkonzerts der Berliner Philharmoniker am 14. Januar 1923 | Bildquelle: Archiv Berliner Philharmoniker In der Alten Philharmonie findet derweil ein Sonderkonzert unter Wilhelm Furtwängler statt, mit Werken, die eigentlich für den nächsten Abend geplant sind. Die Berliner Philharmoniker spielen Haydns "Glocken"-Sinfonie, Händel-Arien, Orchesterlieder von Mahler – und, anders als ursprünglich geplant, Beethovens "Eroica". Eigentlich stand Tschaikowskys 5. Sinfonie auf dem Programm, dem ernsten Charakter des Tages durchaus angemessen. Die Nationalität des Komponisten allerdings passt nicht ins Konzept, handschriftlich wird die Änderung auf den Programmzetteln vermerkt. Das Publikum reagiert begeistert.

Patriotische Lieder und der Fokus auf deutsches Repertoire im Konzertsaal. Passiver, oder wie Reichspräsident Friedrich Ebert damals formuliert, "moralischer" Widerstand. Politisierung von Musik, die auch heute wieder Konzertprogramme prägt, die letzten Monate machen es überdeutlich: Putins Angriffskrieg hat eine anhaltende Diskussion über den Umgang mit russischer Kunst ausgelöst – und eine Woge der Solidarität mit ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern. Jede Komposition spiegelt letztlich politische und soziale Umstände ihrer Entstehung wider. Und auch ihre Aufführung im Konzertsaal steht nicht für sich allein. Absolute Musik, der Realität enthoben? Eine Überhöhung, die niemals Wirklichkeit war. Kultur ist immer auch – politisch.

Sendung: "Piazza" am 14. Januar 2023 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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