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Das Klassikjahr 2018 – ein Rückblick Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist

Frenetisch bejubelte Operndebüts, Skandale, Rücktritte und auch der schmerzliche Abschied von großen Künstlern - das Klassikjahr 2018 war ereignisreich und bewegend. Michael Atzinger blickt für uns zurück und hält es dabei mit William Shakespeare: "Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter."

Szenenfoto "Salome" 2018 - Strauss Oper - Bayreuther Festspiele | Bildquelle: © Salzburger Festspiele / Ruth Walz

Bildquelle: © Salzburger Festspiele / Ruth Walz

Was macht ein musikalisches Highlight aus? Die mitreißende musikalische Gestaltung, gepaart mit einer Regie, die sich nicht anbiedert, nicht unterordnet, nicht dagegen arbeitet, sondern mit der Musik mitatmet. Beim Salzburger Festspielsommer vermutete ein Kritiker, Richard Strauss habe nach der Premiere seiner "Salome" wohl im Himmel selig gelächelt, vor allem angesichts der phänomenalen Asmik Grigorian in der Titelrolle. Das Premierenpublikum beließ es nicht bei Wohlwollen – es schrie sich vor Überwältigung heiser. Und es hatte recht.

Jubel auf dem Grünen Hügel

Piotr Beczala als Lohengrin | Bildquelle: picture-alliance/dpa Piotr Beczała als Lohengrin | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jubel in dieser Phonstärke bot auch Bayreuth auf – beim neuen "Lohengrin". Der Titelheld im Blaumann und im nachtblauen Bühnenbild – und drumherum oft Rampentheater, aber herrliche Stimmen. Piotr Beczała als kurzfristiger, mutiger Einspringer verzauberte – und Waltraud Meier feierte, nach 18 Jahren Abstinenz auf dem Grünen Hügel, eine triumphale Rückkehr als Ortrud.

Spiel im Spiel, faszinierende Videoprojektionen, frappierende Bildwirkungen: im sommerlichen München sorgte Regisseur Axel Ranisch zusammen mit einem erlesenen Sängerensemble für ein fantasievoll-virtuoses Highlight der Opernfestspiele – was niemand erwartet hätte, denn wer kennt schon Joseph Haydns Ritterspektakel "Orlando Paladino"? Ein Überraschungserfolg. Bitte mehr davon!

Ein nachtschwarzes, beklemmendes Psychokrimi-Kammerspiel bot die Bayerische Staatsoper zum Ende des Jahres: Verdis "Otello" mit der überragenden Sänger-Schauspieler-Trias Anja Harteros, Jonas Kaufmann und Gerald Finley, mit Kirill Petrenko am Pult und atemberaubend kunstvoll und präzise inszeniert von Amélie Niermeyer. Neben der Salzburger "Salome" das Opern-Elementar-Ereignis 2018!

Machtmissbrauch und Neuanfang

Erl in Tirol ist nicht bekannt für wagemutiges Regietheater, wohl aber für fein konzipierte Festspielprogramme und deren musikalisch begeisternde Umsetzung. Für beides stand bis zum Sommer  Festspielleiter Gustav Kuhn – bis ihn die Vorwürfe mehrerer Künstlerinnen einholten, die in Erl gearbeitet hatten:

Ungehemmte Aggression, anhaltender Machtmissbrauch, Mobbing, Schikane und sexuelle Übergriffe.
Aus einem Offenen Brief von Künstlerinnen, die in Erl gearbeitet haben.

Kuhn ließ alle Anschuldigungen zurückweisen, legte aber seine Ämter nieder. Erl wird weiterbestehen – unter neuer Leitung. Mit neuen Dirigenten. Und neuen Regisseuren.

Auch in New York geht 2018 eine lange, glänzende Karriere unrühmlich zu Ende: die MET feuert ihren Musikdirektor James Levine. Er soll über viele Jahre hinweg junge Männer, auch minderjährige, missbraucht haben. Die Musikwelt ist entsetzt – und das riecht nun doch ein wenig nach Heuchelei: die Vermutungen standen schon im Raum, als Levine 1999 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker wurde. Auch Levine wehrt sich – und klagt. Seinen 75. Geburtstag feiert niemand.

Viele Metronome für Ligeti, zu viel Wagner auf die Ohren

Die Münchner Symphoniker führen am 17. Januar 2018 György Ligetis "Poème symphonique" für 100 Metronome im Münchner Herkulessaal auf. | Bildquelle: Tobias Stosiek György Ligetis "Poème symphonique" im Herkulessaal | Bildquelle: Tobias Stosiek Im Januar 2018 bitten die Münchner Symphoniker die Bevölkerung um Unterstützung für ein originelles Projekt: 100 mechanische Metronome, alles Leihgaben aus der Bevölkerung, schmücken die Bühne des Herkulessaals für eine Aufführung von György Ligetis "Poème symphonique". Fein säuberlich stehen die Taktgeber nebeneinander und strahlen dabei eine beinah soldatische Würde aus - meint BR-KLASSIK-Kritiker Tobias Stosiek.

Und was da in München fast zu leise rüberkommt, ist in einem anderen Fall an Lautstärke kaum noch zu überbieten: In London klagt der Musiker Christopher Goldscheider gegen seinen Arbeitgeber, das Royal Opera House. Er ist bei einer Probe von Wagners "Walküre" von seinen Bläserkollegen mit 130 Dezibel beschallt worden, trotz Ohrstöpsel: "Goldscheider musste seinen Beruf aufgeben und kann heute nicht einmal mehr Musik hören. Er habe durch die Verletzung seine Karriere verloren und alles, wofür er gearbeitet habe. Er hat das Opernhaus auf 800 tausend Euro verklagt."

Wassermusik und ein Konzertsaal für Nürnberg

The Shape of Water - Filmszene | Bildquelle: Twentieth Century Fox Germany Szene aus "Shape of Water" | Bildquelle: Twentieth Century Fox Germany Mein Film des Jahres: "Shape of Water" – dieses bezaubernde Märchen über zwei stumme Wesen, die in ihrer Schicksalsverbundenheit über Musik kommunizieren. Harfentöne, Flöten, Streicher, ein Akkordeon – das rauscht und tropft und fließt und strömt. Komponist Alexandre Desplat hat hier sein Meisterstück abgeliefert.

In Nürnberg wird im April 2018 der Siegerentwurf für den neuen Konzertsaal vorgestellt, der neben der Meistersingerhalle gebaut wird. Er soll vorübergehend auch als Ersatzspielstätte für das  sanierungsbedürftige Opernhaus genutzt werden. Gesamtkosten: 250 Millionen Euro, Fertigstellung des gesamten Ensembles 2028.

Geburtstage und Abschiede – und musikalische Phänomene am Rand

Im Januar feiert – neben den Kollegen John Eliot Gardiner und Hartmut Haenchen – auch Mariss Jansons seinen 75. Geburtstag und verabschiedet seinen langjährigen Konzertmeister Florian Sonnleitner in den Ruhestand.

Ich habe diesen wunderbaren Beruf und Musizieren macht mir Freude. Und ich hoffe, dass ich mit meinen Konzerten auch dem Publikum Freude bereite.
Dirigent Mariss Jansons

Janet Baker gratulieren wir im August zum 85. Geburtstag. 70 Jahre alt werden Andrew Lloyd-Webber, Hansjörg Schellenberger und Pinchas Zukerman. Und auch Mischa Maisky, der sich freut, dass sein Instrument, das Cello, "Instrument des Jahres" ist. In der Mailänder Scala wird zum ersten Mal überhaupt die "Fledermaus" gegeben. Und in der Schweiz erforschen Wissenschaftler den Effekt von Musik auf die Käsereifung.

Ennio Morricone wird 90 und komponiert noch. Christa Ludwig wird 90 und sinniert munter und geistreich über die Lebenskrise mit 40: "Meine Mutter sagte immer: Du bist hinaufgekrabbelt über die zehn Jahre, dann ist oben ein Tafelberg, da muss man eine gewisse Zeit weiterkrabbeln, bis es wieder hinuntergeht. Und dann muss man schauen, dass man diesen Abstieg mit dem Kopf macht, nicht mit der Stimme." 

Opernsängerin Montserrat Caballé | Bildquelle: picture-alliance/dpa Montserrat Caballé | Bildquelle: picture-alliance/dpa Charles Aznavour will eigentlich erst mit hundert seinen Bühnenabschied feiern. Im Oktober stirbt er mit 92. Im Mai stirbt Dieter Schnebel, im Juni nimmt die Musikwelt bestürzt Abschied von Enoch zu Guttenberg. Und im August von Inge Borkh. Und auch von Coco Schumann müssen wir uns verabschieden, dem Jazzgitarristen, der Theresienstadt überlebt hat. 

Eine traurige Nachricht erreicht die Opernfreunde im Oktober: Ein halbes Jahr nach ihrem 85. Geburtstag stirbt die katalanische Sopranistin Montserrat Caballé, die Königin des Legato, die charismatische Menschenfreundin, der "Pianissimo-Engel".

Es ist ein Geschenk, wenn du auf die Bühne kommst und die Wärme des Publikums fühlst. Es ist wie eine Brücke zwischen dem Publikum und dem Podium.
Montserrat Caballé

Ticketprobleme in Berlin und Hamburg

In Berlin reißt man sich um die Tickets für Verdis düsteres Schauerstück "Macbeth" – mit der dunkel-glühenden Anna Netrebko und dem eindrucksvoll im Bariton-Register wandelnden 77-jährigen Placido Domingo.

Ein Ticketproblem ganz anderer Art hat die Hamburger Elbphilharmonie: die Online-Plattform viagogo sogt mit Leerverkäufen für Entrüstung. Sie verkauft Eintrittskarten, die es noch gar nicht gibt – für Vorstellungen, die eigentlich den Einheimischen vorbehalten sind. Maximal 24 Euro kosten die Konzerte nur für Hamburger, bei viagogo werden sie für bis zu 495 Euro angeboten. Fällt ein Konzert aus, gibt es keine Rückerstattung. Die Erkenntnis: mit Geld kann man nicht alles kaufen.

Konzerthighlight des Jahres

Das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth feiert im März Wiedereröffnung. Und beim Mozartfest Augsburg überrumpelt, überwältigt das Belcea Quartett sein atemlos lauschendes Auditorium mit dem besten Kammerkonzert des Jahres: Beethovens op. 130 in Stücken – und zwischen den Sätzen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. 90 pausenlose Minuten. Sprachlosigkeit, pures Glück, Ovationen. 

Ausblick 2019

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