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Die Kompaktkassette feiert ihre Premiere Ein kleines Wunder

Berlin, 30. August 1963. Die "Compact Cassette" wird erstmals vorgestellt – auf der Funkausstellung. Philips war der Produzent. Was damals eine richtige kleine Revolution auf dem Tonträgersektor war, wurde dann irgendwann altmodisch. Bis sie wiederkam, die Kassette.

Ausgemusterte Tonband-Cassetten | Bildquelle: picture alliance / JOKER | Helmut Metzmacher

Bildquelle: picture alliance / JOKER | Helmut Metzmacher

Das Kalenderblatt zum Anhören

In den Kellern und auf den Dachböden lagern sie noch zu hunderttausenden: die kleinen Quader aus Plastik, mit dem Fenster im Bauch, eingerahmt von zwei gezahnten Rädern. Und was ein Schatz an Musik dort bis heute vergraben ist: aus dem Radio aufgenommene Top-Hits, die heute keiner mehr kennt, seltene Aufnahmen und Raritäten, die BR-KLASSIK – damals noch Bayern4Klassik – ausstrahlte und die Klassik-Fans akribisch zuhause mitschnitten. Dazu das Konzert vom Schulchor, dessen ehemalige Mitglieder inzwischen alle Großeltern sind, die selbstgebastelte Radio-Reportage aus Kindertagen, aufgenommen mit dem Kassettenrecorder im Kinderzimmer. Und natürlich die unzähligen Hörspiele – Pumuckl, Simba, der weiße Löwe, Huibuh das Schlossgespenst und Unmengen von Märchen.

Selbst kuratierte Mix-Tapes kamen in Mode

Die Kompaktkassette hat den Konsum von Musik, von Audioinhalten noch mehr demokratisiert als es die Schallplatte je vermocht hatte. Nun war es möglich, sich sein eigenes Musikprogramm zusammen zu stellen, entweder für die Autoreise, für den Nachmittag am Baggersee oder für das erste Rendezvous. Schließlich war das liebevoll kuratierte Mix-Tape für die oder den Angebeteten in den 80ern und 90ern ein fester Bestandteil des Balzrituals der Jugend.

Zuerst war die Resonanz nicht überwältigend

Doch dass die Kompaktkassette diesen Siegeszug antreten sollte, das war Ende August 1963 noch nicht klar. Als der Elektronikriese Philips auf der Funkausstellung den Kassettenrekorder Philips EL 3300 vorstellt, ist die Resonanz auf das Gerät gar nicht so überwältigend. Übrigens: Manche Quellen sprechen vom 28. August, andere auch vom 29. August. Fest steht allerdings, dass der damalige Postminister Richard Stücklen (CSU) die 23. IFA am 30. August 1963 eröffnet. Der Recorder sieht ein wenig aus wie ein zu groß geratener Rasierapparat. Schwarz mit silbernem Lautsprecher, dazu ein schickes Mikrofon, batteriebetrieben. Und dazu gibt es die Kassette, die man mit dem Mikrofon besprechen kann – Laufzeit 60 Minuten.

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FUNKAUSSTELLUNG 1963 First Sound Recording PHILIPS EL 3300 Cassette EL 1903 Uwe Sültz Lünen German | Bildquelle: Uwe H. Sültz (via YouTube)

FUNKAUSSTELLUNG 1963 First Sound Recording PHILIPS EL 3300 Cassette EL 1903 Uwe Sültz Lünen German

Die Bedürfnisse der Kundschaft im Sinn

Schon zuvor hatte es den einen oder anderen Versuch gegeben, die Tonqualität von großen und unhandlichen Tonbandgeräten in eine kleine Form zu zwängen. Und auch noch nach der Premiere des Philips-Systems auf der IFA kommen Konkurrenz-Modelle auf den Markt, etwa von Grundig, dem amerikanischen Kaufhausriesen Sears oder auch von Sony. Doch keiner dieser Wettbewerber kann sich gegen die Erfindung des Philips-Ingenieurs Lou Ottens durchsetzen. Die meisten dieser Konkurrenz-Entwicklungen waren größer als die Kompaktkassette. Ottens hatte dagegen zuallererst die Handlichkeit im Sinn – und damit die Bedürfnisse der Kundschaft. Unkompliziert musste die Kassette in der Handhabung sein, anders als die bisherigen Tonbandgeräte, die klobig, schwer und umständlich zu bedienen waren.

Handliches Format

Und klein war das neuartige Tonmedium. Zu Beginn der Entwicklung hatte Ottens seinem Team vorgegeben, wie groß – oder besser gesagt, wie klein die neuartige Tonkassette zu sein habe. Er ließ ein Holzmodell mit den von ihm gewünschten Maßen der künftigen Kassette anfertigen – das konnte man leicht in der Hand halten und auch in die Hosentasche stecken. Ursprünglich hatte Philips zeitgleich noch eine weiteres Kompaktkassetten-Format entwickeln lassen, von einem Team in Wien. Diese Kassette hatte nur ein einzelnes Loch und war quadratisch, sie blieb aber ein Prototyp.

Spätestens mit dem Walkman beginnt der Siegeszug

Lou Ottens mit einer Kompaktkassette | Bildquelle: Jerry Lampen/epa/pa Lou Ottens, Erfinder der Compact-Cassette | Bildquelle: Jerry Lampen/epa/pa Ihren Siegeszug verdankt die Kassette mit zwei Löchern dann letztlich doch der japanischen Konkurrenz. Philips konnte die asiatischen Firmen überzeugen, das Format der "Compact Cassette" von Lou Ottens Team zu übernehmen – die Lizenz dafür gab's kostenlos. Spätestens mit dem Siegeszug des Walkman von Sony erringt die Kassette die Macht in der Musikwelt – und das fast überall auf dem Globus. Das hatte auch ihr Erfinder Lou Ottens nicht erwartet: "Dass dann Milliarden von Kassetten produziert werden sollten, hätten wir im Traum nicht gedacht, ja, da bin ich schon ein bisschen stolz drauf". Zu diesem Zeitpunkt erscheint allerdings bereits ein Herausforderer für die Kompaktkassette. Noch leichter, noch einfacher zu bedienen, und vor allem: noch besser im Klang. Aber es sollte noch einige Jahre dauern, bis die Compact-Disc – oder eben: CD – die Kompaktkassette vom Thron stößt.  

Nach dem Abstieg folgt der Wiederaufstieg

Mitte der 2000er ist die Kompaktkassette Schnee von gestern. Nach und nach nehmen die großen Konzerne sie aus dem Programm und stellen die Fertigung von Tonträgern und Abspielgeräten ein. Doch wie fast alle Modeerscheinungen zeigt sich die Audio-Kassette hartnäckig – sie hat ein Comeback gestartet, ähnlich wie die Mode und die Ästhetik der 80er Jahre, in der sie ihre Blütezeit erlebte. Seit ein paar Jahren veröffentlichen Musikerinnen und Musiker wieder Alben auf Kassette. Nicht nur unbekannte Indie-Bands mit einer überschaubaren Anzahl an Fans haben den Retro-Charme der Kassette neu entdeckt – auch große Namen im Showbusiness wie Robbie Williams, Harry Styles oder Taylor Swift bringen ihre Alben wieder auf Kassette heraus, meist als Sammlerstücke. Sogar Kassettenrekorder und Kassettendecks sind wieder neu zu haben – und zwar richtig gute von namhaften Herstellern. Fast so wie damals, als die Kompktkassette die Musikwelt revolutionierte. Vielleicht wird es ja Zeit, auf den Dachboden zu gehen.

In Memoriam Lou Ottens

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Inventor of cassette tapes passes away, looking back at the art of making mixed tapes | Bildquelle: KARE 11 (via YouTube)

Inventor of cassette tapes passes away, looking back at the art of making mixed tapes

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch um 7:40 Uhr, um 12:30 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 30. August 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

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Mittwoch, 30.August, 17:46 Uhr

Jürgen Schemetat

Musikcassette

Ach ja,die gute alte MC !!! Ich habe tatsächlich eine ganze Sammlung von Klassik Mitschnitten von Ihrem BR . "Internationale Musikfestspiele" hieß das damals.Zusätzlich zu bestellen und kostenlos dazu gab es über mehrere Jahre ein passendes Begleitheft.Davon habe ich auch noch einige.Viel,viel Wagner, komplett oder selbst gemachter Querschnitt,alles mitgeschnitten :Levine Ring im letzten Aufführungsjahr ,Tristan, mit Kollo,Baremboim, Ponnelle als Premiere. (1981 ?)Immer mit Schlußapplaus und Getrampel,beste live Atmosphäre!Liederabende mit Jesseye Norman,und vieles mehr. Wunderbare Schätze, vielen Dank,lieber BR.

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